Jetzt ist die Ukraine Beitrittskandidat der EU. Alles andere wäre nicht nur eine Überraschung gewesen, sondern es gab unter den gegenwärtigen Umständen überhaupt keine andere Möglichkeit.
Es gibt Situationen, da geht es nicht darum, was von der Sache her geboten wäre, sondern es muss ein Signal, ein Zeichen gesetzt werden – auch das kann ein Sachzwang sein, um den man nicht herumkommt.
Verständlich, ja selbstverständlich, wenn die Ukraine in dieser Situation die moralische Karte zieht, die da heißt: beweist eure Solidarität, indem er uns in die EU aufnimmt. Gegenüber einem überfallenen Land zu sagen „Nö, lieber doch nicht – aber wir wünschen euch alles Gute“ – das geht nicht, wenn man nicht wie ein Schwein dastehen will.
Trotzdem ist es nicht nur legitim, sondern geboten, nicht allein der Seite der Überfallenen die Definitionsmacht zu überlassen, was zur Solidarität gehört, wie weit sie gehen muss.
Die Geschichte von Watzlawick, mag hier ein bisschen deplatziert werden, aber sie beschreibt was ich meine: Frau backt Heidelbeerkuchen. Mann mag kein Heidelbeerkuchen. Frau sagt „wenn Du mich liebtest, würdest Du mein Heidelbeerkuchen mögen.“
„Die Ukraine wird immer noch von Korruption zerfressen“
Ein Artikel der Süddeutschen vom 20. Juni „Debatte um EU-Kandidatur: „Die Ukraine wird immer noch von Korruption zerfressen“ stellt eine richtige Frage: Genauso wenig wie es ein Liebesbeweis ist, ob man den Kuchen des anderen mag oder nicht, genauso wenig darf mit dem Verweis auf „Solidarität“ gedankenlose, uneingeschränkte Zustimmung gefordert werden.
Bevor die Aufnahme als EU-Kandidat mit der geforderten Einstimmigkeit erfolgte, so heißt es in dem Artikel: „Etliche Länder – Spanien und Portugal, Österreich, die Niederlande und Dänemark – halten die Ukraine für zu korrupt und zu wenig rechtsstaatlich.“ Nun mag man bei Spanien und Portugal gewisse Abstriche machen, denn da könnte auch die Sorge mitspielen, ob die Aufnahme der Ukraine längerfristig nicht auch negative finanzielle Folgen für die „Südländer“ hätte – was die EU- Subventionen angeht.
Aber die Tatsache, dass die Ukrainer brutal überfallen wurde und sich in einem entsetzlichen Krieg befindet, darf nicht vergessen machen: dieser Staat hat schwerwiegende Defizite, die ihn nicht gerade für die EU Mitgliedschaft empfehlen.
Die Ukraine: Auf der Korruptionsliste auf Rang 122 von 180 Staaten
Auf der Korruptionsrangliste Rangliste von transparency international (einer wirklich soliden Organisation) nimmt die Ukraine aktuell Rang 122 von 180 Staaten ein. Es ist ein sehr schwacher Trost, dass Russland noch schlechter (Rang 136) abschneidet. Soweit ich weiß, haben die nämlich noch keinen Antrag auf EU-Mitgliedschaft gestellt.
Ungarn – nebenbei bemerkt – befindet sich in dem aktuellen Ranking auf Platz 73. Das wollte ich nur mal gesagt haben angesichts der permanenten Querelen mit dem ungarischen Ministerpräsidenten Orban und seiner Fidez-Partei, die gerade wieder erst mit großer Mehrheit die Wahlen gewonnen hat. Täuscht mich mein Gedächtnis oder herrschte nach dem Zusammenbruch des Ostblocks nicht auch eine gewisse Begeisterung und viel moralische Attitüde, die Länder, die an der Tür der EU anklopften mit offenen Armen zu empfangen?
Ein Bericht der vom dänischen Außenministerium in Auftrag gegeben wurde und seit Juli 2021 vor lauter Schreck nicht veröffentlicht wurde (aber offensichtlich der Süddeutschen vorliegt), beschreibt die Zustände:
„Der Bericht stellt in Kiew ‚einen generellen Mangel an echtem Willen zur Korruptionsbekämpfung‘ fest […] Die Vorwürfe treffen auch den von Selenskijs Jugendfreund Iwan Bakanow geführten Inlandsgeheimdienst SBU und die Generalstaatsanwaltschaft, geführt von Selenskijs vormaliger Wahlkampfjuristin Iryna Wenediktowa. […] Die Erschwerung oder Sabotage von Anti-Korruptions-Ermittlungen sei offenbar ‚extrem gut koordiniert oder von sehr hohen Ebenen der Gesellschaft in Auftrag gegeben‘.[…] Auch Selenskijs „Diener des Volkes“ [so der Name der Partei Selenskijs. U.N.], die als Saubermänner der Politik angetreten waren, fallen durch negative Schlagzeilen auf: Parlamentarier Oleksandr Jurtschenko etwa wurde erwischt, als er für die Änderung an einem Gesetzesentwurf 13 000 Dollar Bestechungsgeld für sich und 200 000 Dollar zur Bestechung seiner Ausschusskollegen forderte.“
Frau Timoschenko, Herr Putin und der Gaskonflikt 2008/2009
Erinnern Sie sich noch an Frau Timoschenko, jene Frau mit dem äußerst volkstümlichen Haarkranz? Sie war zweimal Ministerpräsidentin der Ukraine, einmal davon im Winter 2008/2009 – da hatte es schon einmal einen Gaskonflikt gegeben, von dem „große Teile Europas betroffen waren“. Das war mir völlig entfallen. Frau Timoschenko verhandelte mit Präsident Putin. “Die EU bewertete die Lösung des Gaskonflikts durch Tymoschenko und Putin als positiv“ weiß Wikipedia zu berichten. Das ist gewiss ehrenwert. Aber ein bisschen irritierte mich dann doch folgender Abschnitt des Wikipedia-Artikels:
„Zu einem milliardenschweren Vermögen und Einfluss kam Timoschenko ab 1995 als Chefin des Energiekonzerns „Vereinigte Energiesysteme der Ukraine“ (EESU). EESU entwickelte sich dank zwielichtiger Gaslieferverträge mit dem russischen Konzern Gazprom zu einem der mächtigsten Wirtschaftsunternehmen der Ukraine.“
Und jetzt – wie weiter?
Kann sein, dass sich inzwischen manches zum Positiven gewandelt hat, kann sein das es ein bisschen mehr Rechtsstaatlichkeit und ein bisschen weniger Korruption gibt. Ich wünsche es.
Aber die Tatsache, dass dieses Land, seine Menschen überfallen wurden und Opfer sind, dass Tod und Zerstörung herrschen, das darf nicht bedeuten, mangelnde Rechtsstaatlichkeit, Korruption, und Oligarchenwirtschaft einfach zu übersehen. Und gar jeden, der darauf aufmerksam macht, so zu behandeln, als wäre er/sie mindestens Putin auf den Leim gegangen, wenn nicht gar auf seiner Gehaltsliste zu finden.
Sicher ist: es wird nicht immer so bleiben. Solidarität, Hilfsbereitschaft und moralische Verpflichtung sind das eine, sie haben ihren Platz. Ich hoffe auch, dass diese Eigenschaften uns auch weiter leiten. Aber daneben brauchen wir auch auch die Bereitschaft, genau und ehrlich hinzuschauen, die eigenen Grenzen und Möglichkeiten genauso wie die der Gegenseite kritisch zu beurteilen, unterscheiden zu können, was Wunschdenken ist und was sich realisieren lässt … Und zwar zu welchem Preis.