Einerseits – Andererseits. Bloss keine Corona-Komplexitätsreduktion!

An der Kasse fiel mein Blick fiel auf die „Bild am Sonntag“: „Corona noch viel schlimmer“ stand da in fetten Lettern. Ich zahlte meine Tankfüllung und unterdrückte nur mit Mühe die Bemerkung “Was verkaufen Sie denn da für einen Schrott?!“. Beim Hinausgehen las ich an der Tür „Betreten nur mit Nasen-Mundschutz“. Huch! Ich war gedankenlos-schutzlos reingelatscht! Ich drehte mich um und sagte entschuldigend „hab nicht dran gedacht!“ – „Alles in Ordnung. Passt schon!“ war die Antwort des im Übrigen ebenfalls schutzfreien Kassierers.   

Jens Spahn: „Wir werden in ein paar Monaten wahrscheinlich viel einander verzeihen müssen“

sagte Jens Spahn Ende April 2020. (https://www.tagesspiegel.de/politik/wir-werden-einander-verzeihen-muessen-warum-jens-spahn-mit-diesen-ungewoehnlichen-worten-richtig-liegt/25772260.html)

Wo er recht hat, hat er recht.

Hier allerdings zum Beispiel denke ich nicht daran, zu verzeihen

  • Nicht „den Medien“ (und dabei meine ich wirklich nicht Revolverblätter, von denen man nichts anderes erwarten kann), die häufig unfassbar undifferenziert und sensationsgeil „berichteten“ und kommentierten.
  • Auch nicht einem Polarisierer wie Söder, der möglicherweise dadurch mit der Kanzlerkandidatur belohnt wird. Ein (massen-)psychologisches Phänomen: Da hat der Ministerpräsident von Bayern seit einem halben Jahr in seinem Land ziemlich durchgehend die miesesten Corona-Zahlen im ganzen Bundesgebiet (was inzwischen nun wirklich nicht mehr mit der Nähe zu Ischgl erklärt werden kann). Söder hat den rabiatesten und wirkungslosesten Lockdown aller Bundesländer verordnet: „In Bayern galt damals, dass man erstens ohne Grund gar nicht aus dem Haus gehen durfte, dass zweitens fast alles geschlossen wurde, wo man überhaupt hätte hingehen können, und dass drittens – falls man noch draußen war – ein Abstandsgebot galt,“ schreibt Wolfgang Janisch leicht ironisch in der Süddeutschen vom 1.8. „Im Zweifel für das Risiko“ (https://www.sueddeutsche.de/politik/corona-auflagen-klage-gerichte-1.4985040). Und es war Herr Söder der mit Sprüchen wie „Menschenleben vor Shoppingtouren“ spaltete – gerade so, als hätten KritikerInnen seiner Linie kein anderes Motiv als den selbstsüchtigen Wunsch nach Kaufräuschen. Und was ist? Nicht das zweifelhafte Resultat seiner Strategie zählt, sondern dass er sich als harter Hund stilisiert. Die Leute scheinen das zu lieben, was auch zu den Dingen gehört, die ich schwer verzeihen kann.
  • Verzeihen tue ich auch nicht das Schweden-Bashing mit den sich von Mai an überschlagenden Meldungen, dass ein Strategiewechsel dieses geradezu verbrecherischen Kurses noch am nächsten Tag bevorstünde (was nicht heißt, dass es in Schweden nichts zu kritisieren gäbe). Und was ist jetzt? Schweigen im Walde! Ich kann auch sagen warum bzw. ich lasse t-online-Nachrichten sprechen: „…Doch während ganz Europa derzeit über die Gefahr einer zweiten Welle diskutiert, sinken die Zahlen in Schweden plötzlich – die Kurve der positiven Corona-Tests flacht ab. Am Mittwoch wurden 308 neue Fälle gemeldet. Mehr als 500 Fälle registrierte das Land zuletzt am 8. Juli. Henner Hebestreit ist seit acht Jahren ZDF-Korrespondent für Schleswig-Holstein, Skandinavien und Schweden. Er berichtet bei t-online.de über die aktuelle Lage im Land… Er sagt: „Die Lage in Schweden ist ruhig, es gibt keinerlei Unruhe, man trägt allgemein keine Masken. Es gibt keine Maskenpflicht, wie das in Deutschland der Fall ist. Es gibt keine Quarantäne für Reiserückkehrer. Die Infektionszahlen sind stabil und auf niedrigem Niveau.“ (https://www.t-online.de/nachrichten/ausland/id_88302398/corona-krise-in-schweden-infektionszahlen-sinken-alles-wieder-gut-.html siehe auch: https://www.heise.de/tp/features/Schweden-nach-dem-Corona-Peak-4852336.html)

 

Wo ich finde, man sollte Herrn Spahn & Co verzeihen

Angeblich gibt es in Deutschland wenigstens 10 Millionen Trainer der Fußballnationalmannschaft. Alles Leute, die wissen, wie man es eigentlich hätte machen sollen und wieso – ganz gewiss nicht so, wie es gemacht wurde. Womit nicht nur vorausgesetzt ist, dass man im fraglichen Moment die richtige Lösung weiß, sondern dass es sie auch gibt, diese eine richtig-richtige Lösung.

Ich möchte das am Beispiel „kranke Kindergartenkinder“erläutern:

In mehreren Landesregierungen kam man auf die Idee, dass Kindergartenkinder mit irgendwelchen halbwegs einschlägigen Krankheitssymptomen zuhause bleiben müssten und erst wieder in den Kindergarten dürften, wenn ein Arzt die Ungefährlichkeit attestierte. Absolut zurecht erfolgte ein Aufschrei der Eltern (auch „die Wirtschaft“ schüttelte den Kopf) und der KinderärztInnen, die die Absurdität des Vorhabens geißelten – gerade wenn es wieder auf den Winter zugeht, wo die Praxen ohnehin voll sind.

Aber was ist die Alternative? Die Kindergarteneltern möchte ich sehen, wenn in ihrem Kindergarten ein Corona-Kind von der Leitung nicht nachhause geschickt worden ist!

Ehrlich gesagt – ich weiß auch keine Lösung. Und genauso, wie in dieser Frage geht es in vielen anderen: zum Beispiel Schule, zum Beispiel Corona-Tests, zum Beispiel Maskenpflicht, zum Beispiel Besuchsverbot in Krankenhäusern und Altenheimen.

 

Es gibt unendlich viele Absurditäten.

Und darüber ist auch zu sprechen: Neben den Absurditäten, über die man nur den Kopf schüteln kann, es gibt nicht wenig Fälle, wo Leute auf dem Ticket „Corona“ fahren. Damit meine ich jene Universitätsbibliothek, die sich derzeit Corona-bedingt nicht in der Lage sieht, neue Ausweise auszustellen. Damit meine ich die pumperlgesunde schwangere Lehrerin, die vom Arzt die Ausstellung eines Beschäftigungsverbots verlangt. Oder diejeigen meiner BerufskollegInnen, die ohne Rücksicht auf ihre PatientInnen, von denen sie gebraucht werden, den Laden einfach dicht machten. Nunja, immerhin haben die wenigstens keine automatische Lohnfortzahlung, was in diesem Fall die Wiederkehr des Verantwortungsbewussteins deutlich förderte. Sozusagen. Oder den Steuerberater, der die Versäumnis von Fristen mit Überlastung durch Corona begründet.

Meine Sammlung von Absurditäten bei staatlichen Regelungen, die Fälle, in denen eine Verordnung Schlimmeres bewirkten als keine- das ist das eine. Dummheit, Bequemlichkeit, nicht-über-den-Tellerrand-Rausgucken – das mag ich nicht verzeihen. Aber Irrtümer angesichts einer mindestens am Anfang unüberschaubaren Situation – das ist was anderes. Kauf von Beatmungsgeräten auf Teufel komm raus, die keiner brauchte – zum Beispiel. Oder Verschiebung von Zehntausenden Operationen etc. inclusive Kurzarbeit in großem Stil bei Klinikpersonal – um aus meinem reichen Schatz wenigstens etwas zitiert zu haben.

Ich wollte nicht in der Haut derer stecken, die Entscheidungen treffen müssen. Ich korrigiere: doch, ehrlich gesagt, öfter wäre ich schon gern in deren Haut. Weil ich den begründeten Verdacht habe, dass ich es besser machen würde. Leider oder zum Glück komme ich nicht in die Lage, den Beweis antreten zu können.

 

Voraussetzung, dass es besser funktioniert: Corona – das ist eine Krankheit wie jede andere.

Mit Corona ist umzugehen, wie mit jeder anderen Krankheit, wie mit jedem anderen Lebensrisiko auch.

Corona ist keine Monsterkrankheit (und die in Medien beschriebenen Horror-Spätfolgen etc. – bei welcher Krankheit sind solche Fälle nicht bekannt? Von Grippe bis Borreliose bis Masern bis Gürtelrose).

„Die Wahrheit ist, dass das kalkulierte Risiko letztlich die zentrale Kategorie für den Umgang mit Corona ist“, schreibt Wolfgang Janisch in dem zitierten Artikel der Süddeutschen. Bevor hier jemand aufjault („Sie wollen die Alten sterben lassen. Jedes Leben zählt…..“) bitte ich um kurzes Nachdenken: Wo verhalten wir uns denn anders? „Absoluten Gesundheitsschutz“ gibt es nicht, hat es nie gegeben, wird es nicht geben. Genauso wenig wie „absolute Sicherheit“ Aber anfangs schien es so, als wäre genau dies das Ziel der Pandemiebekämpfung. Hier wäre wieder ein Punkt, wo Verzeihen fehl am Platz ist. Meiner Meinung nach wurden illusionäre Hoffnungen, Erwartungen geweckt.

Dass „absoluter Gesundheitsschutz“ ein illusionäres Ziel ist, dass wir infolgedessen „irgendwie“ mit Corona werden leben müssen, sollte eigentlich jedem deutlich werden, wenn man es an Krankheiten wie Grippe, Lungenkrebs, Bandscheibenvorfall etc. durchdekliniert. Oder an Suiziden, Verkehrstoten, Unfällen im Haushalt. Hier kommt auch niemand auf die Idee, man könnte die Rate der „unerwünschten Ereignisse“ auf Null senken. 

„Es gibt dann Infektionsrisiken, die sind von Verfassungswegen hinzunehmen“ – „Das Grundgesetz mutet uns allen zu, die Verwirklichung solcher Risiken als Kollateralschäden des Freiheitsgebrauchs grundsätzlich hinzunehmen.“ (https://www.hasepost.de/verwaltungsrichter-sehen-regierungshandeln-in-coronakrise-kritisch-189708/ vom 7.5.20 und SZ vom 1.8.20 Wolfgang Janisch „Im Zweifel für das Risiko“). Der das sagt ist Robert Seegmüller, Richter am Bundesverwaltungsgericht und CDU-Mitglied. Also nicht gerade verdächtig, ein linker oder rechter Spinner, Impfgegner und Aluhut-Träger zu sein. Bei der Berliner Demo am 1.8. ist er vermutlich auch nicht mitgegangen.

 

Abschied vom Kinderglauben „die da oben können es richten“. Werden wir erwachsen!

Das eine ist, dass wir uns von der Illusion verabschieden, es gäbe die absolut wirksame und unfehlbare Lösung. Das andere ist der Abschied von einer anderen Illusion: der Illusion „die da oben können es richten.“ Manchmal wirkt es so, als meinten manche, Frau Merkel und Kompanie hätte das Virus zu verantworten und deswegen sei es auch ihre verdammte Pflicht und Schuldigkeit, es zu beseitigen. Das ist nur eine Variante zur Illusion es gäbe irgendwo, irgendwie die „richtig-richtige“ Lösung. Zum einen gibt es nur Annäherungen an eine im Unendlichen liegende „richtige Lösung“ und zum andern hat sie ihren Preis.

Nichts ist umsonst. Nur der Tod – und der kostet das Leben.

Wenn das allgemeiner Konsens würde und dazu noch die Einsicht, dass es „die“ Wahrheit genauso wenig gibt wie „die“ Lösung“, sondern dass die besten Ergebnis dann herauskommen, wenn man einander respektvoll (und vielleicht sogar: bescheiden?) zuhört, wenn wir die Lösungen nicht „von oben“ erwarten, sondern uns zutrauen und zumuten, mitzuwirken – wie wär denn das?  

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