Der kleine Unterschied zwischen Intensivmedizinern und Müttern

Das zahlenmäßige Verhältnis

Die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) hat 2800 Mitglieder. Gut, das sind sicher nicht alle Intensiv- und NotfallmedizinerInnen und dazu kommt noch ein Mehrfaches an Pflegepersonal auf den Intensivstationen. Gehen wir also mal großzügig gerechnet von 50 000 Betroffenen aus.

Das ist das eine. Das andere:

Laut dem Statistischen Bundesamt waren rund 2,2 Millionen Mütter und etwa 407.000 Väter im Jahr 2019 alleinerziehend in Deutschland.  Die nicht alleinerziehenden Eltern lasse ich jetzt einfach mal unter den Tisch fallen, obwohl diese auch gewaltig belastet sind.  

Was fordern die Intensivmediziner?  – Fordern die alleinerziehenden Mütter was?

Seit Tagen wird gemeldet:Intensivmediziner fordern harten Lockdown. Intensivmediziner in Deutschland haben die Corona-Lage als sehr dramatisch bezeichnet.“

Ich empfehle mal zu googeln: „Intensivmedizin Corona“ und Sie erhalten eine Flut von dramatischen Meldungen und Forderungen nach striktem Lockdown, strengem Lockdown, ganz strengem Lockdown, unvermeidbar ganz strengem Lockdown.

Heute (10.4.) in den 9-Uhr-Nachrichten des Deutschlandfunks: Die Leiterin des Müttergenesungswerks, Frau Schilling warnte: Mütter sind am Anschlag und allein gelassen“. Bereits um 10 Uhr tauchte die Meldung nicht mehr auf.

Auch hier empfehle ich zu den Stichworten „Mütter Corona“ – meinetwegen auch „Eltern Corona“ zu googeln: Sie werden einen gewissen Unterschied feststellen. Keine Forderung nach Lockup, lediglich der zaghafte Vorschlag von der Geschäftsführerin des Müttergenesungswerks: „Die Geschäftsführerin sieht die Politik in der Pflicht. Das ständige Hin und Her bei den Maßnahmen verunsichere die Mütter. ‚Ich finde Schulunterricht, wenigstens in Teilmodellen, Kinderbetreuung, wenigstens in irgendeiner Art von Wechsel oder an bestimmten Tagen – es müssen Angebote da sein, damit irgendwie noch mal Licht am Horizont ist‘“, meinte Schilling.“

 

Wieso diese Unterschiede?

Bin ich ungerecht, wenn ich feststelle, dass hier irgendwas mit der Verhältnismäßigkeit nicht stimmt? Ja, der Dienst auf einer Intensivstation ist extrem belastend, das will ich gewiss nicht kleinreden. Aber die Belastungen durch Kindergarten-, Schulschließungen, Homeschooling, Kontaktbeschränkungen, finanzielle Sorgen – sind die geringer anzusetzen? Der Unterschied ist auch: Die längste Schicht auf der Intensivstation endet mal, es gibt dienstfreie Tage und Ferien. Davon können viele Alleinerziehende nur träumen.  

Was ist da los in unserem Land (und vermutlich nicht nur in unserem Land), dass eine vergleichsweise kleine Gruppe derart Gehör findet, derart Druck ausüben kann, während eine ungleich größere Gruppe, der doch angeblich unsere Zukunft anvertraut ist, einfach hinten runter fällt?

Liegt der Unterschied am weißen Kittel? Liegt er darin, dass sich ein Bild „Wenn die Intensivversorgung nicht mehr funktioniert, dann sterben Menschen“ leichter vermitteln lässt als ein Bild: „Wenn Mütter ausfallen, kollabieren, gewalttätig werden, dann nehmen Kinder körperlich und seelisch dauerhaften Schaden.“

Oder liegt es daran, dass eine Gruppe sich besser in Szene setzen kann als die andere?

Oder liegt es daran, dass die Leidensfähigkeit und Fügsamkeit der beiden Gruppen deutliche Unterschiede aufweist?

 

Last not least: Zahlen zu Corona-Patienten auf Intensivstationen

Aktuell (10.4.21) liegt die Zahl der auf Intensivstationen behandelten Corona-Patienten aktuell bei ca. 4500.

Am 9.4. 21 schrieb die Berliner Zeitung: Mediziner: Nur noch 295 Intensivbetten in Deutschland für Corona-Patienten frei.

Am 16. März – das ist zugegeben schon ein paar Tage her, aber seither hat sich die Lage keineswegs dramatisch verändert –  lese ich auf der Seite der Deutschen Krankenhausgesellschaft  (die sich im übrigen mit den Intensivmedizinern angelegt hat und diese der unnötigen Dramatisierung bezichtigt):  

Kapazitäten 
Vor der Corona-Krise gab es in Deutschland bundesweit rund 28.000 Intensivbetten, davon 22.000 mit Beatmungsmöglichkeit. Diese waren durchschnittlich zu 70 bis 80 Prozent belegt. Bundesweit wurden in einer gemeinsamen Kraftanstrengung die Kapazitäten ausgebaut. Zusätzlich haben alle Krankenhäuser, unterstützt durch zentrale Maßnahmen des Bundesministeriums für Gesundheit, weitere Beatmungsplätze geschaffen. Aktuell konnte die Zahl der betreibbaren für Covid-19-Patienten geeigneten Intensivbetten mit Beatmungsmöglichkeit auf mehr als 28.000 gesteigert werden. Zusätzlich steht eine Reserve bereit, die innerhalb einer Woche aktiviert werden kann. Diese Reserve schwankt je nach Personalsituation zwischen 10.000 und 12.000 Betten. Sie wird erst durch weiteres Rückfahren der Regelversorgung und weitere Maßnahmen verfügbar. 

Da sollte man sich doch mal Gedanken machen. Interessengeleitet sind wir alle. Das ist weder eine neue Erkenntnis noch ist das schlecht. Aber manchen gelingt es offensichtlich, ihre Interessen etwas besser zu vertreten als anderen. Was wollen wir: Rücksichtslose Vertretung der eigenen – durchaus  berechtigten – Interessen oder ein Blick über den eigenen Tellerrand, das Bewusstsein, dass es auch noch andere – nicht minder berechtigte – Interessen gibt. „Solidarität“ heißt das – glaube ich. 

1 Comment

  1. Neumann Joachim David
    10. April 2021

    Hinzu kommt die Frage: Wieso sind die Intensivstationen überlastet?
    Von einer befreundeten Intensiv- und Notfallmedizinerin weiß ich, dass das Tragen einer „Corona-sicheren“ Arbeitskleidung nicht nur körperlich extrem anstrengend ist, sondern die entsprechende Umsetzung auch seelisch belastend ist, weil die sozialen Kontakte am Arbeitsplatz auf ein Minimum runter gefahren werden. Die Freundin überlegte sich ernsthaft, ob sie sich nicht zwei Wochen krank schreiben lassen solle, so fertig fühlte sie sich.
    Und vor ein paar Monaten las ich einen Artikel über die „katastrophen Zustände“ in Belgien: Es wurde von einer Intensivschwester berichtet, die psychisch auf dem Zahnfleisch ging. Nur im Nebensatz wurde der Grund dafür genannt: Die Krankenschwester hielt es – verständlicherweise – kaum mehr aus, Angehörigen den Zugang zu ihren schwerkranken und oft totgeweihten Lieben ständig verwehren zu müssen.

    Der Schluss liegt nahe: Die Interessensvertretung der Intensivmediziner vertritt nicht einmal die Interessen der eigenen Gruppe richtig. Sie schadet allen.

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