Ursula Neumann in „Ortenauer Originale“ (Mittelbadische Presse 2.9.21): Hier das vollständige Interview

Nur mal auf die Schnelle:  Heute erschien in der Mittelbadischen Presse ein Beitrag in der Serie „Ortenauer Originale“. Den Originaltext stelle ich irgendwann heute noch ein.

Nun verstehe ich zwar unter einem „Original“ eher jemanden mit einer Knubbelnase und verschrobener Sprache vor – und behaupte, diesem Bild nicht zu entsprechen. 

Wie immer bei veröffentlichten Texten muss  gekürzt werden, manchmal ziemlich kräftig und Überarbeitung ist auch hier und da angesagt.  Trotzdem möchte ich den Ursprungstext, den ich mit dem freien Mitarbeiter der Mittelbadischen Presse Alexander Schütt erarbeitet hatte,  meinen verehrten Leserinnen und Lesern nicht vorenthalten:     

 

A.S.: Von einer gläubigen katholischen Theologin zur engagierten religionskritischen Agnostikerin – nicht gerade ein gradliniger Lebensweg.

U.N.: Das stimmt. Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil war ich zuversichtlich, die Kirche sei reformierbar. Außerdem dachte ich wie viele Was kümmert mich Rom, wir machen hier, was wir für richtig halten. Mein späterer Mann, damals Kirchenrechtsprofessor in Tübingen, war dagegen sehr schnell überzeugt: Das wird nichts. Da hatte er eine ganz andere Position wie Hans Küng. Den fand er ziemlich naiv, auch wenn er sein rechtlicher Berater in dessen zahlreichen Auseinandersetzungen mit Rom war.

A.S.: Was meinte Ihr Mann dazu?

U.N.: Ich glaube, er fand es ein bisschen dumm. Aber ich habe dazugelernt. Er ging mir auch bei der grundsätzlicheren Gottesfrage voran: Es hätte ja auch die Möglichkeit gegeben, nur der katholischen Kirche ‚Tschüs‘ zu sagen und ‚irgendwie‘ gläubig zu bleiben. Aber unser beider Weg führte zum Agnostizismus, das heißt: Wir akzeptieren, dass wir die Frage nach Gott, nach Jenseits usw. nicht entscheiden können. Also nicht Atheismus – denn das ist nach unserer Auffassung auch wieder ein Glaubenssystem, das die Neigung hat, andere Glaubenssysteme zu bekämpfen. Das brauchten wir nicht.

A.S: Außer Küng gehörten zur Tübinger katholisch-theologische Fakultät damals ja recht bekannte Leute.

U.N.: Sie denken sicher an Herrn Ratzinger? Der späterer Papst Benedikt XVI., dessen Vorlesungen übrigens fad waren, wurde ausgerechnet von Hans Küng nach Tübingen geholt, weil der ihn für einen Progressiven hielt. So kann man sich täuschen! Was aber nicht so verwunderlich ist, denn Ratzinger gab sich zu Zeiten des II. Vatikanums recht fortschrittlich. Ich denke, er war kurvensicher. Schon 1969 wechselte er an die Uni Regensburg, nachdem er sich (wie auch zuvor in Bonn) mit ziemlich der gesamten Fakultät zerstritten hatte. Kein sehr angenehmer Zeitgenosse.

A.S.: Und wie ging es weiter?

U.N.: 1977 gab mein Mann seine kirchliche Lehrbefugnis zurück, und begründete diesen Schritt in einem ausführlichen Brief an den Bischof mit der Unmenschlichkeit des kirchlichen Systems. Weiter bei der Ausbildung von Priestern und TheologInnen mitzuwirken, schien ihm verantwortungslos. Natürlich wurde in gutkatholischen Kreisen kolportiert, da stecke eine Frau – und zwar ich – dahinter. Aber das ist Blödsinn. Bischof und katholische Fakultät versuchten dann nach Kräften, Johannes aufs Abstellgleis zu schieben. Aber da mein Mann auch als ehemaliger Rektor der Universität Tübingen einen guten Draht zum Kultusministerium hatte, war es zwar eine durchaus aufregende Zeit, aber sein Wechsel an die Fakultät für Verhaltenswissenschaften erfolgte sehr schnell.

A.S.: Daraufhin haben Sie Psychologie studiert?

U.N.: Nein, da war nun ich fixer als mein zukünftiger Mann. Ich hatte schon 1975 neben der Berufstätigkeit mit dem Psychologiestudium angefangen, um danach die psychotherapeutische Ausbildung zu machen. Das hatte nichts mit der Beziehung zu meinem Mann zu tun, sondern ich hatte zuvor eindrücklich erlebt, dass es riskant ist, als Theologin auf einen einzigen Arbeitgeber angewiesen zu sein. Am Ende hat mein Mann als Dekan seiner neuen Fakultät mein Psychologiediplom unterschrieben. Das fanden wir beide hübsch.

A.S.: Ihr Mann war ja eigentlich als Priester zum Zölibat verpflichtet. Wie sehen Sie das heute?

U.N.: Der Zölibat war in der Vergangenheit ein ausgezeichnetes Disziplinierungsmittel: Wenn ein Geistlicher irgendwie aufmüpfig, nicht linientreu war, dann drohte der Bischof mit dem Finger ‚ich weiß gewisse Dinge von dir, wenn du nicht artig bist…‘ Solange aber ein Priester nicht gerade bei der Wallfahrt mit seiner Freundin ein Doppelzimmer nimmt, wurde weggeguckt. Ich übertreibe bestenfalls geringfügig. Damals war ich im Schulreferat des bischöflichen Ordinariats angestellt, der Bischof wusste bestens über mein Verhältnis mit meinem späteren Mann Bescheid. Ich wurde noch nicht mal drauf angesprochen, hatte auch keinerlei Sorge, man könne mir kündigen. Ich war es, die gekündigt hat und zwar als es mir passte.

A.S.: Das klingt erstaunlich. Wie lässt sich das erklären?

U.N.: Die Zeiten waren schon damals so. Etwas pointiert gesagt: Nicht die ‚SünderInnen‘ müssten Angst vor dem Bischof haben, sondern umgekehrt. Im Jahre 2020 wurden in ganz Deutschland 57 Priester neu geweiht. Wer braucht hier wen? Ich wundere mich, dass das so wenig realisiert wird: Was würde wohl passieren, wenn ein paar Priester zum Bischof sagten: ‚übrigens, wir leben kirchenrechtlich gesehen im Konkubinat und werden das auch weiter tun‘? Der Bischof würde es sich sehr gut überlegen, das zu tun, was er kirchenrechtlich tun müsste: Nämlich die ‚Sünder‘ aus dem Amt entfernen. Täte er das, hätte er nämlich ein doppeltes Problem: Wie die vakanten Stellen besetzen und ‚wie sag ich’s den Gemeinden?‘ Die nicken auch nicht mehr alles ab, was der Bischof tut. Es ist schon ein Kreuz! Was ein Problem ist: Der Zölibat ist für manche Geistliche eine prima Entschuldigung, ein nicht mehr genehmes Verhältnis ‚ehrenwert‘ zu beenden: ‚Ich habe mich jetzt nach langen inneren Kämpfen doch fürs Zölibat entschieden, das musst du doch verstehen!‘ Und dann fangen sie eine neue Liaison an. Um nicht missverstanden zu werden: Wer den Zölibat halten will, wer darin einen Sinn sieht, den respektiere ich. Ich muss es ja nicht verstehen. Allerdings: das oft ins Spiel gebrachte Argument, Unverheiratete könnten sich viel mehr der Gemeinde widmen, ist nicht stichhaltig, vor allem aber ist es eine Beleidigung aller verheirateten protestantischen Pfarrer.

 

A.S. Würde die Aufhebung des Zölibats nicht helfen, um sexuellen Missbrauch durch Kirchenleute zu verhindern?

U.N.: Ich glaube nicht. Nicht der Zölibat ist Ursache für sexuellen Missbrauch durch Priester, zumal nach den Untersuchungen, die ich kenne, homosexuelle Übergriffe durch Geistliche viel häufiger sind. Da würde Heirat wenig helfen. Grundsätzlich: Sexueller Missbrauch hat weniger mit Sexualität als mit Machtmissbrauch zu tun. Die Betonung des Gehorsams durch die katholische Kirche führt zwangsläufig zu Strukturen, die sexuellen Missbrauch begünstigen. Ich erinnere mich an einen Fall, wo mir eine Patientin erzählte, sie habe sich in der Beichte dem Geistlichen anvertraut, dass ihr Vater sie missbrauche. Darauf wurde sie von diesem beschimpft, wie sie nur so lügen könne.

A.S.: War ein solches Verhalten nur für kirchliche Kreise typisch?

U.N.: Solche Reaktionen waren die Regel, nicht die Ausnahme. Keineswegs nur im kirchlichen Bereich. Ich habe mich mit dem Thema gründlich befasst, viel darüber geschrieben und Vorträge gehalten: Kindern wurde nicht geglaubt – wenn sie überhaupt etwas zu sagen wagten. In einer juristischen Zeitschrift war zu lesen, die vaginalen Verletzungen – die nun nicht zu leugnen waren – hätte sich ein Mädchen selbst mit der Klobürste beigebracht. Generell galt: Sowas kommt höchstens bei Asozialen vor, aber nicht bei uns ehrenwerten Leuten. Ich nehme meine eigene Zunft da nicht aus: Erst im Laufe meiner Ausbildung in den 1980-er Jahren wurde sexueller Missbrauch u.a. durch das Buch von Matthias Hirsch (Realer Inzest – Psychodynamik des sexuellen Missbrauchs in der Familie) überhaupt zum Thema. Zuvor wurden entsprechende Äußerungen von PatientInnen als ödipale Wunschfantasie gedeutet, die es zu bearbeiten gelte. Die Kumpanei der Erwachsenen war eine Schande! Wie zum Beispiel die jenes Mesmers, von der mir eine Betroffene erzählte: Er wusste genau, was abging und hat gut darauf geachtet, dass seine eigene Tochter nicht allein mit dem Herrn Pfarrer zusammenkam, die anderen waren egal. 

A.S.: Was schützt Ihrer Meinung nach Kinder vor sexuellem Missbrauch?

U.N. Der wichtigste Schutz ist der Konsens aller – nicht nur der Eltern: Kinder haben Rechte, gerade auch das Recht ‚Nein‘ zu sagen. Es muss schon für Kinder selbstverständlich sein: über meinen Körper bestimme ich! Und: ich kann mich voll Vertrauen an Erwachsene wenden, mir wird geglaubt.

 

A.S.: Sie sind für eine strikte Trennung von Kirche und Staat. Was für eine Rolle spielte das bei Ihrem Prozess zum Ethikunterricht in den 90er Jahren?

U.N.: Grundsätzlich: ich halte es für einen Skandal, dass die deutschen Bischöfe und ihre protestantischen Pendants vom Staat, von unser aller Steuer bezahlt werden. Und zwar Minimum 9000 Euro/Monat.[Quelle z.B. https://www.kath.net/news/61517]. Kein Cent kommt aus Kirchensteuermitteln! Das ist nur ein kleines Beispiel. Der staatlich finanzierte Religionsunterricht gehört auch zu den deutschen Merkwürdigkeiten. In den 1980er Jahren setzte eine Flucht aus dem Religionsunterricht ein, der zwar ordentliches Lehrfach war, aus dem man sich aber mit 14 Jahren abmelden konnte. Bei den Protestanten war es ein Drittel der SchülerInnen, bei den Katholiken ein Viertel. Die Kirchen liefen Sturm, weil sie sich um eine Einflussmöglichkeit gebracht sahen.

A..S.: Ist es nicht ein legitimes Anliegen, SchülerInnen ohne Religionsunterricht ein Fach zur Wertevermittlung anzubieten?

U.N.: Über Jahre hat sich in der Schule kein Mensch um die ‚Moral‘ unseres konfessionslosen Sohnes gekümmert. Erst als aus seiner Klasse auf einen Schlag die meisten aus Reli austraten, wurde man aktiv. Dass Religionsunterricht die Leute ‚moralischer‘ macht, ist leicht zu widerlegen: Sind die Leute in allen anderen Ländern in denen es keinen schulischen Religionsunterricht gibt – das sind fast alle – unmoralischer? Der Grund für die Einführung des Ethikunterrichts in Baden-Württemberg war einzig: Man wollte auf Betreiben der Kirchen die Austrittswelle stoppen, es war eine Strafaktion gegen ‚Religionsflüchtlinge‘. Das zeigt schon die Regelung damals: wenn kein Religionsunterricht wegen Lehrermangels stattfand, durfte auch kein Ethikunterricht stattfinden – auch wenn dafür eine Lehrkraft vorhanden gewesen wäre. Da war das hehre Ziel der „Wertevermittlung‘ plötzlich egal. Abschreckend sollte wirken: Unterricht in den Nachmittagsstunden, kein Status als ordentliches Lehrfach (mit dem man z.B. eine „Fünf“ in Biologie hätte ausgleichen können). Last not least: Jeder und jede, die sich berufen fühlte, konnte sich als EthiklehrerIn melden.

A.S.: Es gab keine Ausbildung für EthiklehrerInnen?

U.N. Das Kultusministerium sagte damals ausdrücklich: Die Einrichtung eines Ausbildungsganges ist nicht vorgesehen. Nicht selten übernahm der Religionslehrer oder Pfarrer den Ethikunterricht gleich mit. Das war das Szenario. Und nun wurde unser Sohn von einem Tag auf den andern zum Ethikunterricht zwangsverpflichtet. Wenn es einen verpflichtenden Ethikunterricht gemeinsam für alle gegeben hätte – da könnte man drüber reden. Aber für ein freiwilliges Fach, von dem man sich abmelden kann, eine Teilnahmeverpflichtung am Ethikunterricht abzuleiten, das war schon keck. Dagegen haben wir bis zum Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) in Berlin prozessiert. Der Prozess ging zwar in etlichen Teilen verloren: Es wurde durch das Urteil vom 17. Juni 1998 festgestellt, dass das Land Ethikunterricht für nicht am Religionsunterricht Teilnehmende einrichten darf. Aber die Gleichstellung des Ethikunterrichts mit dem Religionsunterricht wurde verfügt. Es musste also auch ein entsprechender Studiengang eingerichtet werden. Ich freu mich noch heute über einen Dankesbrief des Ethiklehrerverbandes 2018 zum zwanzigjährigen Jubiläum des Prozesses.

A.S.: Wenn wir gerade bei den Jugendlichen sind: Es wird häufig geklagt, sie wären heute weniger engagiert als früher. Wie sehen Sie das?

U.N.: Ich bin überzeugt, dass junge Menschen heute nicht weniger bereit zum Engagement sind. Was sich – nicht nur bei Jugendlichen – verändert: Man tritt nicht mehr selbstverständlich mit 16 Jahren in die Jugendfeuerwehr ein und kriegt mit 66 Jahren die 50-jährige Ehrennadel. Sondern Engagement ist mehr ‚projektorientiert‘. Wenn man einsichtig machen kann, dass etwas Sinn macht, dann sind die Jungen dabei! Vielleicht muss man mehr Begründungsarbeit leisten. Das finde ich nur gut. Die Jungen hängen sich vielleicht mal sechs Monate für ein Projekt richtig rein – und machen danach Pause, bevor sie sich für was Neues engagieren. Wenn ich an ‚Fridays for Future‘ mit allen Varianten denke: ich habe Vertrauen in die Jugend!

A.S.: Sie selbst haben sich ehrenamtlich in der Flüchtlingsarbeit engagiert. Wie kamen Sie dazu?

U.N.: Mein Mann musste mit 16 Jahren aus Königsberg fliehen, er wusste, wie es ist, Flüchtling zu sein. Er hat teils schlimme Erfahrungen mit den ‚Einheimischen‘ gemacht, Feindseligkeit und Vorurteile am eigenen Leib kennengelernt. Andererseits ist er immer wieder Menschen begegnet, die ihm geholfen haben, die einfach gut waren. Im Jugoslawienkrieg wollte er das weitergeben, was er an Gutem erfahren hat und ich war dabei. Übrigens: Unter den Engagierten gab es viele ChristInnen, PfarrerInnen. Damit will ich sagen: Tolle Menschen gibt es überall, ebenso wie idiotische Hardliner. Ein mitfühlender Christ ist mir zehnmal lieber als ein mir weltanschaulich eigentlich näherstehender, aber engstirniger Agnostiker. Zurück zur Flüchtlingsarbeit: Ich selbst habe über viele Jahre ‚Deutschunterricht‘ gegeben, weil mir die Sprache der Schlüssel zur Integration zu sein scheint. Ganz bescheiden, keine große Sache. Und dann nach 2015 nochmal… Im Moment – nun ja, ich bin 74, da darf man sich vielleicht auch mal ein bisschen zurückziehen. Aber in meinem Blog schreibe ich über Afghanistan. Ich kenne Menschen aus Kabul, die gerade bedroht sind. Könnte schon sein, dass ich noch mal einsteige.

A.S.: Wie geht es Ihnen, wenn Sie die aktuellen Meldungen aus Afghanistan hören? 

U.N.: Ich bin zornig und traurig: Man kann nicht einfach in ein Land einmarschieren, fahrlässig ahnungslos hinsichtlich der verwickelten Situation dort, vollmundig Aufbau und Demokratisierung versprechen, gleichzeitig aber gemeinsame Sache mit korrupten Politikern und Narco-Warlords machen und dann Hals über Kopf abziehen. Ich finde es zum Kotzen, wenn unser Außenminister sagt ‚Upps, wir haben die Lage falsch eingeschätzt.‘ So viel zu den Fähigkeiten der ‚Experten‘. Aber noch mehr zum Kotzen finde ich, wenn ich hierzulande Stimmen höre, die vor einer neuen Flüchtlingswelle warnen: Nach dem Zweiten Weltkrieg haben wir 12 Millionen Flüchtlinge aufgenommen, und damals war Deutschland zerstört. [Quelle z.B. https://www.bpb.de/gesellschaft/migration/dossier-migration-ALT/56359/nach-dem-2-weltkrieg] Jetzt sind wir ein reiches Land. Haben diese Leute kein Ehrgefühl? Von Mitgefühl will ich gar nicht reden. Das ist die eine Seite. Die andere: Es gibt gerade bei HelferInnen eine gefährliche Idealisierung von Flüchtlingen: Nach dem Motto: Flüchtlinge sind Opfer und Opfer sind automatisch ‚die Guten“. Das ist Quatsch. Ich habe öfter erlebt, dass diese Idealisierung zur Frustration führte, wenn realisiert wurde: Flüchtlinge sind genauso normale Leute wie wir: manche sind doof, manche wunderbar, manche rücksichtslos, manche aufopfernd.

 

A.S.: Das ist das Stichwort für Ihren Artikel „Gutmensch trifft Flüchtling“, mit dem Sie 2020 den Marta-Schanzenbach-Literaturpreis gewonnen haben. Stellt diese Auszeichnung für Sie Ehre, Verpflichtung, gar Berufung zugleich dar und gibt es für den neutralen Beobachter gar Parallelen zwischen den beiden Personen Ursula Neumann und Marta Schanzenbach?

U.N.: Ich gestehe, Marta Schanzenbach war mir vor der Preisverleihung kein Begriff. Ich habe mich dann ein bisschen kundig gemacht und bewundere sie. Aber vergleichen tue ich mich wirklich nicht mit ihr, die Brötchen die ich gebacken habe, fallen deutlich kleiner aus. Eine Karriere als Bundestagsabgeordnete von 1949 bis 1972 und das noch bei den Sozis im schwarzen Südbaden! Wieviel Kraft sie brauchte kann man sich heute nicht mehr vorstellen. Nur ein Punkt: Es galt als absolut unweiblich, Karriere zu machen. In einem Hirtenbrief von 1952 gegen die Gleichberechtigung zitiert ein Bischof lobend eine Frau, die gesagt hat ‚Politik betreibe ich nicht. Meine Politik ist die gute Erziehung meiner Kinder.‘

A.S.: Das war vielleicht der kirchliche Standpunkt. Aber sonst?

U.N.: Für so was gab es Zustimmung von allen ‚Experten‘ Juristen, Theologen, Ärzten. Auch deshalb kriege ich in diesen Corona-Zeiten Pickel, mit welcher Gläubigkeit die Meinung von ‚Experten‘ als in Stein gemeißelt dargestellt wird. Mit ‚wissenschaftlichen Erkenntnissen‘ von Medizinern, die nur wenige Jahrzehnte zurückliegen, kann man heute Heiterkeitserfolge erzielen. Beispiel: Im Eröffnungsvortrag des Deutschen Ärztetags von 1961 sagte der Mediziner Professor Kirchhoff: ‚Die vornehmste und höchste Aufgabe im Leben der Frau bedeutet die Erfüllung der Mutterschaft (…) Durch zu frühzeitig einsetzende Erwerbstätigkeit (…) können reparable, aber auch irreparable an den Geschlechtsorganen entstehen… Eine Mutter mit Kindern bis zu 15 Jahren gehört nicht in eine außerhäusliche Berufsarbeit; ihre Aufgabe ist es, die Hüterin der Familie zu sein.‘ Mit so was musste sich Frau Schanzenbach rumschlagen. Demgegenüber sind meine Kämpfe, die ich durchaus ausgefochten habe, Spaziergänge unter Blütenbäumen. Wenn Sie mich aber nach Parallelen zu Marta Schanzenbach fragen, so ist es vielleicht nicht unbescheiden zu sagen: Ich bemühe mich, sozial engagiert zu sein, mich mitfühlend in die Situation von anderen hineinzuversetzen. Und ich lasse mich wenig beeindrucken vom ‚Mainstream‘. Da halte ich es mit Immanuel Kant ‚Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen‘ und mit Hannah Arendt (die auf Kant zurückgreift) ‚Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen‘.

 

A.S.: Sie haben jetzt schon zweimal in unserem Gespräch Bemerkungen gemacht, die darauf schließen lassen, dass Sie nicht mit allen Corona-Maßnahmen einverstanden sind. Was ist Ihr Standpunkt?

U.N.: Als Psychotherapeutin und als Staatsbürgerin sehe ich in der Tat vieles kritisch: Es hat mich entsetzt, wie die Corona-Frage zu einer ‚moralischen‘ Frage mutierte. Gerade von Seiten der Politik aber auch von ‚seriösen Medien‘ wurde jeder und jede, die das Prinzip der Verhältnismäßigkeit ins Spiel brachte, als Querdenker, Ignorant, rücksichtsloser Egoist diffamiert, der herzlos die Oma ins Grab schickt. Ein Philosoph hat mal gesagt: ‚ein Gespräch setzt voraus, dass der andere auch recht haben könnte.‘ Diese Haltung, diesen Respekt habe ich vermisst. Stattdessen ‚wir die Guten – ihr die Bösen‘. Spaltung wurde befördert einschließlich Denunziantentum und Blockwartmentalität. Ich halte es da mit Wolfgang Schäuble – gewiss nicht als Querdenker verdächtig, der im April 2020 sagte: ‚…wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig. Grundrechte beschränken sich gegenseitig. Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt, dann ist das die Würde des Menschen. Die ist unantastbar. Aber sie schließt nicht aus, dass wir sterben müssen.‘ [Quelle: https://www.tagesspiegel.de/politik/bundestagspraesident-zur-corona-krise-schaeuble-will-dem-schutz-des-lebens-nicht-alles-unterordnen/25770466.html]

A.S.: Was meinen Sie mit „Prinzip der Verhältnismäßigkeit“?

U.N.: Gerade in meiner Praxis sehe ich die Folgen der Lockdowns, für die wir lange werden zahlen müssen: Einsamkeit, Existenzvernichtung, Überforderung der Familien, Zunahme der Kindsmisshandlungen, Benachteiligung gerade derjenigen Kinder, die schon vorher im Schatten standen… Was ist aus dem ärztlichen Prinzip geworden ‚Vor allem nicht schaden‘? Jeder Arzt muss abwägen: Wenn ich ein bestimmtes Medikament gebe, hat das nicht Nebenwirkungen, die schlimmer sind als die Krankheit? Es fand keine Abwägung statt, alles wurde dem ‚Krieg gegen Corona‘ untergeordnet. Dass in großem Umfang notwendige Untersuchungen, Notfallaufnahmen wegen Herzinfarkt/Schlaganfall unterblieben, weil Leute Angst hatten, zum Arzt zu gehen – diese Statistiken findet man nur, wenn man ziemlich sucht. In einer Todesanzeige stand: ‚Unsere Großmutter ist nicht an Corona, sondern an Einsamkeit gestorben‘. Soziale Kontakte sind lebensnotwendig, erst recht für Kinder und Jugendliche. Wenn Kretschmann dümmlich verkündete ‚Partys muss man nicht feiern, arbeiten und lernen schon‘, so diffamiert er ein Grundbedürfnis als Luxus. Inzwischen werden in Kinder- und Jugendlichenpsychiatrien Feldbetten aufgestellt.

A.S.: Dann sind Sie womöglich auch nicht mit Kretschmanns Satz „Impfen ist erste Bürgerpflicht“ einverstanden?

U.N.: Es wäre etwas anderes gewesen, hätte er gesagt: Leute, ich hab mich kundig gemacht und ich halte das Impfen für den richtigen Weg und ich bitte euch, informiert euch auch und lasst euch wenn möglich impfen.‘ Stattdessen gießt er Öl ins Feuer. Der Spruch erinnert fatal an das preußische ‚Ruhe ist die erste Bürgerpflicht‘. Wenn Impfen erste Bürgerpflicht ist, was ist dann Toleranz, Respekt vor dem Grundgesetz, Steuerehrlichkeit usw.? Durch solche Äußerungen trägt er weiter zur Spaltung einer Gesellschaft bei, die ohnehin schon gespalten ist. Was ich meine: Eine Patientin berichtet fast weinend, sie werde von ihren Arbeitskolleginnen regelrecht gemobbt. Warum? Sie hat sich wirklich gut informiert und gegen eine Impfung entschieden, aus Gründen, die ich teils nachvollziehbar finde, teils weniger. Ihre Bedenken angesichts der kurzen Entwicklungszeit der Impfstoffe halte ich für verständlich – auch wenn ich mir selbst da weniger Sorgen gemacht habe und zweimal geimpft bin. Ich frage Sie: Wer ist jetzt die bessere Staatsbürgerin? Diese Frau oder ihre Kolleginnen, die sich (da gehe ich jede Wette ein) nicht informiert haben, sondern einfach dem Trend nachtrotteten und sie jetzt beschimpfen, sie sei schuld, wenn Menschen an Corona sterben?

A.S.: Eine Frage noch zum Abschluss: Wie sehen Sie Ihre therapeutische Arbeit?

U.N.: Ich habe großen Respekt vor meinen PatientIinnen. Viele haben unglaublich schwere Schicksale – und meistern doch ihr Leben. Wenn es mir gelingt, ihnen dabei ein wenig zu helfen, bin ich froh.

Kommentare

  1. Marion Battke
    3. September 2021

    Sehr interessant, und sehr nachdenkenswert. Danke!

    Antworten

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