Corona: der Tod in der Statistik, die Verhältnismäßigkeit und: „Wer ist hier eigentlich zynisch?“

Das Bundesamt für Statistik  ist seit Monaten für mich eine wichtige Quelle. Wobei ich den Eindruck habe, dass ich damit zwar nicht allein dastehe, aber die Nutzung dieser Seite scheint mir nicht so selbstverständlich zu sein, wie ich es mir wünsche und wie es für eine realistische Bewertung der Corona-Epidemie notwendig wäre.

Zunächst bitte ich Sie mal um eine Schätzung:

Wie viele Menschen sterben Jahr für Jahr in Deutschland?

Nein, bitte schauen Sie nicht gleich nach der Antwort, sondern überlegen Sie zunächst:

200 000?

500 000?

2 000 000?

Die korrekten Zahlen sind:

2017 starben in Deutschland 932 263 Menschen

2018 waren es 954 874

2019 waren es 939 520

Woran Sie schon sehen, dass die Zahlen in einer Größenordnung von über 20 000 von einem Jahr zum anderen schwanken können – und niemand hat 2018 nach dem Gesetzgeber gerufen. Genauso wenig wie im Januar 2020. Da betrug die Zahl der Verstorbenen 85 327. Ganz ohne Corona. Im April, dem Monat mit der bislang höchsten Zahl von „Coronatoten“ lautete diese Zahl übrigens 83 743.

Wenn ich richtig gerechnet habe, haben wir von Januar bis einschließlich Oktober 793 817 Todesfälle. Das bedeutet: Wenn wir im November und Dezember noch jeweils 80 000 Todesfälle dazukommen, sind wir knapp auf dem Stand von 2018.

Zur Erinnerung: Heute (5.12.20) sind in der Bundesrepublik insgesamt 18 517 Tote mit oder an Corona zu beklagen.

Ich möchte Sie bitten, sich zum besseren Verständnis der Zahlen (wenigstens) einen Ausschnitt eines Interviews mit Dr. Felix zur Nieden, Experte für Demografie und Sterbefallzahlen im Statistischen Bundesamt, genauer anzusehen:

Sprechen wir einmal über die Ergebnisse aus dieser Sonderauswertung: Wie hat sich die Corona-Pandemie auf die Sterbe­fall­zahlen ausgewirkt?

Effekte haben wir ab der letzten Märzwoche im Jahr 2020 gesehen und dann den ganzen April über: Da hatten wir deutlich erhöhte Sterbefallzahlen. Wenn man den April für sich betrachtet, so waren die Sterbefallzahlen 10 Prozent über dem Durchschnitt der Vorjahre. Diese Differenz zum Durchschnitt der Vorjahre passt sehr genau zu den gemeldeten COVID-19-Todesfällen beim RKI. Oberflächlich betrachtet lässt sich daraus schließen, dass andere Erklärungen für diese Erhöhung nur eine untergeordnete Rolle spielen können. Wenn man nochmal ein bisschen genauer in die Daten guckt, haben wir zwei auf­fällige Befunde. Zum einen war das Phänomen der Übersterblichkeit regional sehr stark fokussiert: Es ist vor allem in Bayern und in Baden-Württemberg aufgetreten. Andere Länder sind kaum beziehungs­weise gar nicht betroffen gewesen. Wenn man sich das Ganze altersspezifisch anschaut, dann sind es vor allem die über 80-Jährigen, die davon betroffen waren. Dort lagen die Zahlen teil­weise 20 Prozent über dem Vorjahres-Durch­schnitt. Man muss allerdings berücksichtigen, dass mittlerweile mehr über 80-Jährige in Deutschland leben als in den letzten Jahren. Wenn man die Sterbefälle ins Verhältnis zur Bevölkerung setzt, ergeben sich immer noch erhöhte Sterberaten von 10 Prozent für diese Altersgruppe…

…Unser Ziel ist es, die absoluten Sterbefallzahlen mit diesem Durchschnittsvergleich [gemeint: Vergleich mit den Jahren 2016-2019 U.N.] einzuordnen. Aber die Sterbefallzahlen hängen nicht nur von der Sterblichkeit und dem aktuellen Sterbegeschehen ab, sondern auch von der Größe und Altersstruktur der Bevölkerung. Ganz vereinfacht gesagt: Mehr Ältere, mehr Sterbefälle…. Selbst in diesem Vier-Jahres-Zeitraum muss man beachten, dass es Altersstruktur-Effekte gibt. Beispielsweise hat die Alters­gruppe der über 80-Jährigen von 2016 bis 2019 um 15 Prozent zugenommen – von 4,9 auf 5,7 Millionen. Das muss man natürlich berücksichtigen…“

 Zunächst: Die einfache Gleichsetzung „mehr Tote im April ist monokausal auf den Anstieg der Todesfälle mit oder an Covid 19 zurückzuführen“ wird abgelehnt. (Was natürlich nicht bedeutet, dass die „Corona-Todesfälle“ keinen Einfluss hätten!). Es ist zu fragen (und zu forschen!), wieso es in Söderland (das ist da, wo man während des 1. Lockdowns noch nicht mal allein auf einer Parkbank sitzen und ein Buch lesen durfte) und in meinem Bundesland Baden-Württemberg zu einer massiv höheren Todeszahl kam als in anderen Bundesländern. Andere Altersstruktur? Schwächen im Gesundheitswesen? Pflegeeinrichtungen, die hier weniger professionell waren als anderswo? Nähe zu Ischgl?

Bevor man sich darüber nicht gründlich Gedanken macht, Hypothesen aufstellt und überprüft, ist man wissenschaftlich nicht ernst zu nehmen. 

Der zweite Punkt – der nur ganz vereinzelt in den Medien berücksichtigt wird: Da die durchschnittliche Lebenserwartung der Bundesdeutschen so um 80 Jahre liegt, bedeutet ein Anstieg der über 80-Jährigen um 15 Prozent, dass bei einer Krankheit, die vor allem für alte Menschen gefährlich ist, die Sterberaten bei über 80-Jährigen entsprechend höher werden.

Zurück zu dem Interview:     

„…Bei Hitze­wellen ist es im Prinzip ähnlich. Man weiß, Hochaltrige leiden besonders unter hohen Temperaturen, haben ent­sprechend auch höhere Sterbewahrscheinlichkeiten, und wenn wir in den heißesten Wochen des Jahres besonders hohe Sterbefallzahlen sehen, geht man davon aus, dass es da einen Zusammenhang gibt. Das ist wieder diese Kombination aus Erfahrungs­wissen und Ausschluss­prinzip: Was könnte die punktuelle Erhöhung, die wir im August 2020 gesehen haben, sonst erklären, wenn nicht die Hitzewelle, die zeitgleich war?“

Hintergrund dieser Passage: Während im August und September 2020 die Gesamtzahl der „Coronatoten“ 332 war, gab es in diesen beiden Monaten 7792 Todesfälle mehr als im Durchschnitt von 2016-2019. Das heißt: Corona scheidet als Ursache aus. Sondern plausibel ist ein Zusammenhang mit der Hitzewelle in dieser Zeit.

So. Und jetzt frage ich: Wer ist hier eigentlich zynisch? Das wird einem ja immer vorgeworfen, wenn man bei dem Satz „Jedes Leben zählt““ nicht einfach mit dem Kopf nickt. Besonders beliebt ist dabei die Diffamierung, einem seien „die Alten“ (zu denen – mit Verlaub – auch ich zähle) egal und man vertrete die Meinung „die sterben ja sowieso bald.“. Ein alter Mensch, der aufgrund einer Hitzewelle stirbt – zählt der weniger als ein alter Mensch mit Covid 19? Wir wissen nur zu genau, was die Hitzewellen auslöst. Und was außer sehr, sehr halbherzigen Bemühungen geschieht gegen den Klimawandel?

 

Teil II  Zynismus oder Plädoyer für Verhältnismäßigkeit?

„Zigaretten sind Massenvernichtungswaffen“

Mit gewissem Recht nennt der Spiegel Zigaretten Massenvernichtungswaffen“: „127.000 Menschen sterben in Deutschland jährlich an den Folgen des Rauchens – das ist mehr als jeder achte Todesfall. Warum nur haben wir uns an diese Zahlen gewöhnt?“ fragt der Autor des Artikels.

Wer ist hier zynisch? Doch nicht etwa der Staat, der an der Tabaksteuer verdient? Und zwar 14,3 Milliarden Euro im Jahr 2019.   

 

Malaria-Versorgung wegen Pandemie unterbrochen

Ich wage es, über die Grenzen unserer Republik hinauszugehen: die Meldung des Spiegel vom 30.11.2020 :

Wegen der Corona-Pandemie könnte es der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zufolge in diesem Jahr Zehntausende zusätzliche Todesfälle durch Malaria geben. Je nachdem wie stark die Malaria-Versorgung wegen der Pandemie unterbrochen worden sei, könne es zwischen 20.000 und 100.000 mehr Malaria-Tote geben als erwartet, die meisten davon Kinder, sagte Pedro Alonso, der Leiter des Malaria-Programms bei der WHO.“

Geht uns nix an, ist ja nicht in Deutschland? Wer ist hier zynisch?

 

Oder die Tagesschau vom 1.12.20

Corona erschwert Kampf gegen Aids

Derzeit überlagere die Corona-Pandemie natürlich viele andere Gesundheitsthemen, sagt Christian Körner vom Leibniz-Institut für Experimentelle Virologie in Hamburg. Das sei bis zu einem gewissen Grad verständlich und notwendig. „Ich würde mir wünschen, dass wieder die Aufmerksamkeit auf die HIV-Pandemie gelenkt wird. Eine Pandemie, die seit mehr als 30 Jahren abläuft, enorme sozioökonomische Folgen in den schwer betroffenen Ländern nach sich zieht und jeden Tag Menschenleben kostet“….

Die Versorgung der Menschen mit Medikamenten gegen die Immunschwächekrankheit läuft an vielen Stellen der Welt nicht reibungslos, weil die Corona-Pandemie gerade alles überlagere, sagt Winnie Byanyima. Sie ist Leiterin des Anti-Aids-Programms der Vereinten Nationen. An HIV leiden noch immer 38 Millionen Menschen weltweit. Sie befürchtet, dass Corona große Folgen für Betroffene von HIV und Aids hat. Corona könnte allein in diesem Jahr zu knapp 300.000 zusätzlichen HIV-Infektionen und zu mehr als 100.000 Todesfällen führen…“

Ach ja, da sind vor allem die Afrikaner betroffen (von denen die Fürstin von Thurn und Taxis vor etlichen Jahren sagte, dass sie „gern schnackseln“) und Schwule. Selbst schuld. Wer ist hier zynisch?

 

Von Großbritannien wird am 25.11. gemeldet:“Corona-Rezession: Britische Regierung geht von größtem Wirtschaftseinbruch seit 300 Jahren aus“.

De logische Konsequenz:

Großbritannien streicht die Entwicklungshilfe zusammen, denn das Land braucht jeden Penny selbst

„…Gleichzeitig teilte der Finanzminister mit, Entwicklungshilfen zu kürzen. Statt des bisherigen Anteils von 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens (BNE), der gesetzlich verankert ist, werde Großbritannien nur noch 0,5 Prozent für Hilfen ausgeben. Im vergangenen Jahr hatte Großbritannien umgerechnet knapp 17 Milliarden Euro für Entwicklungshilfen ausgegeben…. In der vergangenen Woche hatte Premierminister Boris Johnson das größte Investitionsprogramm in das britische Militär seit dem Ende des Kalten Krieges angekündigt. Umgerechnet 18,5 Milliarden Euro sollen demnach zusätzlich in die Verteidigung des Landes investiert werden.“

Das man jeden Cent/Penny selber braucht und deswegen an anderen sparen muss, gilt sicher nicht für die Briten. Kann man doch verstehen! Stattdessen am Investitionsprogramm für das Militär zu sparen – ich bitte Sie! Da geht es um SICHERHEIT.

Die Folgen benennt eine Meldung der Tagesschau vom 1.12.20

UN-Bericht: Extreme Armut nimmt wegen Corona zu

Die Vereinten Nationen warnen vor einem drastischen Anstieg extremer Armut infolge der Pandemie. „Die Krise ist noch lange nicht vorbei“, sagte UN-Generalsekretär Guterres. Die Mittel für humanitäre Hilfen stünden vor großen Engpässen.

Die Corona-Pandemie führt einem Bericht der Vereinten Nationen (UN) zufolge weltweit zu einem drastischen Anstieg extremer Armut. 235 Millionen Menschen werden 2021 Hilfe benötigen, um Zugang zu Nahrung, Wasser und sanitäre Einrichtungen zu bekommen, wie die UN in ihrem „Global Humanitarian Overview 2021“ berichtete. Das sei ein Anstieg von 40 Prozent im Vergleich zu diesem Jahr.

Extreme Armut ist übrigens definiert: weniger als 1 Dollar Einkommen pro Tag. Das sind ungefähr 0.82 Euro. Zum Vergleich: bis zum 1.12.20 wurden hierzulande Coronahilfen in Höhe von 71 Milliarden Euro genehmigt. Für deutsche Bürgerinnen und Bürger, für deutsche Unternehmen. Da wäre nichts dagegen einzuwenden, wenn diese Summe nicht woanders Leben kosten würde. Jedes Leben zählt? Ach so. Sie meinen: So war der Satz jetzt nicht gemeint?

 

Gut, kehren wir zu den „entwickelten Ländern“ zurück: Der ärztliche Nachrichtendienst (nur für ÄrztInnen und diesen „Gleichgestellten“ zugänglich) berichtet am 9.11.2020:

https://www.aend.de/article/208837

Behandlungsverzögerung erhöht Sterberisiko deutlich

Im Zuge der Corona-Pandemie wurden weltweit viele nicht dringliche Operationen und Behandlungen verschoben. Gerade für Krebs-Patienten könne dies allerdings schwerwiegende Folgen haben, warnen kanadische und britische Mediziner im Fachblatt „The BMJ“. Schon ein Monat Verzögerung in der Krebstherapie könne das Sterberisiko um 3 bis 13 Prozent erhöhen, so das Fazit der Wissenschaftler – und es wachse umso stärker, je später die Behandlung beginne.

„Eine vierwöchige Verzögerung der Therapie ist bei allen gängigen Formen der Krebsbehandlung mit einem Anstieg der Mortalität verbunden, wobei längere Verzögerungen zunehmend nachteilig sind“, so Hauptautor Hanna. Konkret erhöhe sich das Sterberisiko bei Operationen für jede vierwöchige Verzögerung um sechs bis acht Prozent, bei einigen Strahlen- und systemischen Therapien sogar um bis zu 13 Prozent. Die Mediziner kalkulierten, dass Verschiebungen um acht bis zwölf Wochen das Todesrisiko noch weiter erhöhten. Als Beispiel dafür nennen sie Brustkrebs, bei dem eine achtwöchige Operationsverzögerung das Risiko um 17 Prozent ansteigen lasse, bei zwölf Wochen gar um 26 Prozent.“

Ein beatmeter Corona-Patient rechtfertigt wie viele verzögerte Krebsbehandlungen? Ach, das sei eine zynische Frage? Welche Frage ist dann angemessen?

 

„Niemand bekam die Kinder zu sehen“

Zum Schluss möchte ich den fünf Jahre alten Fabio aus Mönchengladbach betrauern. Stellvertretend für andere Kinder, die an Corona starben:

Unter der Überschrift „Niemand bekam die Kinder zu sehen“ schreiben Arne Hell und Lena Kampf in der Süddeutschen Zeitung vom 4.12.20 (Druckausgabe):

Fabio wurde totgeschlagen, sein Bruder schwer misshandelt. Vom Freund seiner Mutter: „Niemand bekam die Kinder zu sehen: Von Mitte März an gingen sie nicht mehr auf den Spielplatz, der wegen der Corona-Pandemie gesperrt war, und Fabio besuchte auch nicht mehr die Kita. Obwohl dem Jugendamt vorher schon Anzeichen für Gewalt gemeldet worden waren, war Fabio nicht berechtigt, in die Notbetreuung zu gehen. Auch ein geplantes Gespräch des Jugendamts mit der Kita und der Familie fand nicht mehr statt. Es war Lockdown….“

Vor dem Lockdown hatte die Kindergartenleiterin hingesehen, blaue Flecken, Verletzungen registriert und wirklich alle Hebel in Bewegung gesetzt, damit Fabio und seinem Bruder geholfen wird… Aber im Lockdown sieht keiner hin. (Vgl. auch den Beitrag von SWR 2) 

Tja. Bedauerlicher Kollateralschaden von „Jedes Leben zählt“?

Wer ist hier zynisch? Die, die auf „Corona“ und die (Todes-)Zahlen starren, nicht rechts und nicht links schauen, sich ach so moralisch vorkommen gegenüber denen, die für „Verhältnismäßigkeit“ plädieren und versuchen in einer schwierigen Situation möglichst viel gegeneinander abzuwägen. Wer ist hier mehr und wer ist weniger berechtigt für sich in Anspruch zu nehmen „für mich zählt jedes Leben“?

2 Comments

  1. tomcat
    12. Dezember 2020

    ich mache normalerweise keine Kommentare, aber hier ist so ziemlich alles zusammengefasst, was die aktuellen Coronazahlen hergeben – Danke!

    Antworten
    1. Ursula
      12. Dezember 2020

      Ich danke ebenfalls, freut mich… wobei das Thema nun wirklich nicht erfreulich ist.

      Antworten

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Nach oben scrollen