Zwei RKI-Prognosen in einem Jahr
Am 18. März 2020 titelte die Welt: :„RKI warnt vor 10 Millionen Infizierten in weniger als 100 Tagen.“
Das hatte damals RKI-Chef Wieler gemeint und daraus Forderungen nach entsprechend drastischen Maßnahmen abgeleitet.
Tatsächlich hatten wir ein gutes Dreivierteljahr später, nämlich am 22.1.2021 Zwei Millionen achtundachtzigtausend vierhundert (2.088.400) bestätigte Fälle.
Am selben 22.1.21 sagt Professor Drosten in einem (kostenplichtigen) Spiegel-Interview (Überschrift: »Ich habe schlimme Befürchtungen, was sonst im Frühjahr und Sommer passieren könnte« Untertitel: „… Und er sagt, 2021 könnte gefährlicher werden, als viele denken“):
„….es wäre absolut erstrebenswert, jetzt auf die Null zumindest zu zielen. Vor allem, weil ich schlimme Befürchtungen habe, was sonst im Frühjahr und Sommer passieren könnte…. Wenn die alten Menschen und vielleicht auch ein Teil der Risikogruppen geimpft sein werden, wird ein riesiger wirtschaftlicher, gesellschaftlicher, politischer und vielleicht auch rechtlicher Druck entstehen, die Corona-Maßnahmen zu beenden. Und dann werden sich innerhalb kurzer Zeit noch viel mehr Leute infizieren, als wir uns das jetzt überhaupt vorstellen können. Dann haben wir Fallzahlen nicht mehr von 20.000 oder 30.000, sondern im schlimmsten Fall von 100.000 pro Tag…. Dieses schlimme Szenario könnten wir etwas abfedern, wenn wir die Zahlen jetzt ganz tief nach unten drücken.“
Zucker für die rosaroten Elefanten
Nun wird man natürlich sagen: „Die März-Prognose von RKI-Chef Wieler über 10 Millionen Infizierte innerhalb des nächsten Vierteljahres hat sich allein deshalb nicht bewahrheitet, weil die strengen Maßnahmen Wirkung zeigten. Und genau aus diesem Grund muss man jetzt der Prognose von Herrn Professor Drosten folgen und darf die Corona-Maßnahmen auch dann nicht runterfahren, wenn alte Menschen und Risikogruppen geimpft sind.“
Das könnte mal wieder so eine Geschichte wie beim rosa Elefanten sein: „Ich streue jeden Abend Zucker auf die Fensterbank, dass die rosa Elefanten nicht kommen.“ – „Aber es gibt doch gar keine rosa Elefanten!“ – „Da siehst du: Es wirkt!“
Wäre die Kausalität so eindeutig, dann müsste das Ergebnis genauso eindeutig sein: Länder mit strengeren Maßnahmen (z.B. Bayern, Belgien, Frankreich, Spanien) sollten nach dieser Logik bessere Ergebnisse haben als die, die großzügiger sind (Bremen, Schleswig-Holstein, Niederlande, Schweden). Das ist nicht der Fall.
Im Übrigen: Wenn Herr Drosten die strengen Beschränkungen auch dann nicht aufheben will, wenn alte Menschen und Risikogruppen geimpft sind, wüsste man schon gern: Wann ist denn der richtige Zeitpunkt? Wenn auch das letzte Virus den Geist aufgegeben hat? Das kann dauern. Siehe Pocken und Kinderlähmung. Die bislang einzigen Beispiele, in denen eine (beinahe) Ausrottung gelungen ist.
Alternativvorschlag zum Umgang mit Prognosen
„Prognosen sind schwierig, vor allem, wenn sie die Zukunft betreffen“ (Mark Twain)
- Deshalb sollten die, die Prognosen äußeren, vorsichtig, gewissenhaft und abwägend damit umgehen.
- Verbunden mit der selbstkritischen Frage „Könnte es nicht auch ganz anders sein?“
Was die Adressatinnen und Adressaten von Prognosen angeht:
- Prüfe, wie zuverlässig die Vorhersagenden in der Vergangenheit waren
- Prüfe, ob die Schlussfolgerungen, die aus der Prognose gezogen werden, vernünftig und voraussichtlich zielführend ist
- Oder ob – im schlimmsten Fall – die Prognose das Mittel sein könnte, uns zu bestimmten Handlungen zu bewegen, bzw. bestimmte Maßnahmen zu akzeptieren.
- Wenn das angestrebte Ziel vernünftig und gut ist, prüfe, ob es nicht Möglichkeiten gibt, es auf eine weniger einschneidende Weise zu erreichen
- Wenn das angestrebte Ziel vernünftig und gut ist, prüfe, ob es nicht gegen andere ebenso wichtige Ziele, die genauso vernünftig und gut sind, abgewogen werden muss
- Prüfe, was andere kompetente Menschen dazu sagen