Selbstkritik gehört nicht gerade zu den uns reflexhaft zur Verfügung stehenden Fähigkeiten. Warum sollte das jetzt beim katastrophalen Scheitern „des Westens“ in Afghanistan anders sein? In den Foren (aber keineswegs nur dort) gibt es viele Stimmen beleidigter Vorwurfshaltung à la „dann sollen die doch mit ihren Taliban glücklich werden, sie wollen es ja so“ oder weinerlich „da haben wir so viel für die getan und jetzt sind die so undankbar“:
Beispiel:
„Die Versager sitzen nicht in den westlichen Regierungen sondern im Land selbst.
Joe Biden hat es doch gut formuliert: Warum sollen denn ausländische Soldaten für ein Land kämpfen, wenn nicht mal die eigenen Bürger/Soldaten dazu bereit sind?
Wenn es den Bürgerinnen und Bürgern in Afghanistan in 20 Jahren mit massiver ausländischer Unterstützung nicht gelungen ist, eine funktionierende Gesellschaft bzw. ein funktionierendes Staatsgebilde aufzubauen, das in der Lage ist, sich dauerhaft gegen die Taliban zur Wehr zu setzen, dann macht es keinen Sinn, auch nur noch einen Cent in dieses Land zu investieren, von personellem Einsatz von Soldaten oder Zivilisten ganz zu schweigen.“
Warum sind wir in Afghanistan einmarschiert?
Joshua Schößler dokumentiert die Geschichte Afghanistan seit der Staats(?)-gründung 1747 (17.8.21). Es ist eine Geschichte voller angeblich gutmeinender Invasoren. Wer da nicht misstrauisch wird, ist einfach nur dumm.
Anlass für „unsere Invasion“, so Schößler, war der Terroranschlag auf das World Trade Center in New York.
Krieg gegen den Terror, Rache an den Taliban, die Osama bin Laden nicht ausliefern wollten, notwendige Selbstverteidigung… darum ging es – angeblich. „Damals, im Winter des Furors, fragten weder die Öffentlichkeit noch die Regierungsapparate nach Plänen und der Zukunft des Einsatzes“, schreibt Christoph Reuter im Spiegel.
Die Bodenschätze Afghanistans, vor allem Lithium, das wir für unsere Laptops etc. brauchen, dürfte eher unter die offensichtlichen aber nicht genannten Gründe fallen.
„Befreiung Afghanistans von den Taliban“, „Demokratisierung“ waren nachgeschobene Begründungen. Womöglich mehr für die Heimatfront.
Das Konstrukt „Taliban“
Wir alle „wissen“, was für Steinzeitislamisten die Taliban sind und wir stellen sie uns als eine homogene Bewegung vor. Ich krame einen Artikel von 1998 heraus: „Afghanistan zwischen Chaos und Machtpolitik“. Der Verfasser Conrad Schetter habilitierte sich ein paar Jahre später mit der Arbeit „Ordnungsmuster gewaltsamer Konflikte. Die Intervention in Afghanistan zwischen Ethnizität, Kriegsfürstentum und Taliban“.
Unter der Überschrift „Das Konstrukt Taliban“ legt er die Rolle Pakistans unter Benazir Bhutto für deren Entstehung dar, stellt lakonisch fest: „Die Gelder für den Aufbau der Taliban stammen aus Saudi-Arabien. Doch werden die Taliban auch von verschiedenen Ölkompanien unterstützt… Die USA vermieden es, direkt mit den Taliban in Verbindung gebracht zu werden. Doch sind die stillschweigende Duldung ihrer Ausbreitung sowie die häufigen Besuche amerikanischer Diplomaten in ihrem Hauptquartier Indizien für das anfängliche Wohlwollen der USA gegenüber den Taliban.“
Schetters Fazit 1998:
„…Doch es wäre falsch, den Afghanistankrieg als Marionettenspiel ausländischer Mächte zu beschreiben, da die Eigendynamik des Konflikts nicht unterschätzt werden darf: In Afghanistan lebt mittlerweile eine Bevölkerung, für die der Krieg Alltag und das Kämpfen zum Beruf geworden ist. Ein Zusammenleben aller Afghanen unter einem gemeinsamen Dach ist aufgrund des blutigen Bruderkriegs, der tiefe Gräben zwischen die afghanischen Bevölkerungsgruppen getrieben hat, auf mittelfristige Sicht kaum vorstellbar. Als Hoffnung bleibt, dass trotz der Fragmentierung des Landes alle Afghanen fest an die Integrität Afghanistans glauben.“ ….meint der Autor vor 23 Jahren…
Nicht „reif für den Sozialismus“ – nicht „reif für die Demokratie“?
Am 17. Mai 2010, also vor 11 Jahren erschien in der Süddeutschen ein langes Interview mit Egon Bahr, dem „Architekten der Ostpolitik“ unter Kanzler Brandt.
sueddeutsche.de: Soll der Westen aufgeben, Afghanistan zu demokratisieren?
Bahr: Während des Kalten Krieges hatte ich einen „Back Channel“, eine inoffizielle Leitung nach Moskau. Mein Kanalkamerad …. sagte, er sei in Afghanistan gewesen. Er habe einen eigenen Eindruck gewinnen wollen – und fand, die Afghanen seien für keine Form des Sozialismus reif. Er könne mir garantieren, dass es keine zwei Jahre dauern würde, bis die Sowjetarmee aus dem Land abziehe. Es sei unmöglich, dieses Land zu kontrollieren. Damals hatte die Sowjetunion gerade fünf Jahre Afghanistan besetzt.
sueddeutsche.de: Und, was folgt daraus?
Bahr: Wir sind jetzt fünf Jahre in Afghanistan. Auch wenn die amerikanische Militärtechnik ungleich besser ist als die russische damals – die Lage ist im Prinzip gleich. Könnte es also sein, dass die Afghanen nicht nur keine Form des Sozialismus, sondern auch für keine Form der Demokratie geeignet sind? Könnte es sein, dass wir unsere Ziele gar nicht erfüllen können?
sueddeutsche.de: Was glauben Sie?
Bahr: Wir reden schon jetzt nicht mehr von Demokratie – sondern vom Aufbau eines sicheren, sich selbst tragenden Staates. Dieses Ziel könnte aber genauso irreal sein wie das erste. Nach wie vor haben die Warlords die Kontrolle über das Land. Und ich habe nicht den Eindruck, dass Afghanistan in überschaubarer Zeit vom Mohnanbau unabhängig werden könnte.
sueddeutsche.de: Was bedeutet das für die anstehende Verlängerung der Afghanistan-Mandate im Oktober?
Bahr: Wenn dort wieder für nur ein Jahr verlängert wird, empfände ich das als lächerlich und völlig irreal. Ich bitte Sie, bei aller Vorsicht: Ich könnte mir vorstellen, das Ziel zu erreichen, wenn man dort über 20 Jahre lang 500.000 Nato-Soldaten stationiert. Es gibt aber keine Parlamente, die dem zustimmen.
sueddeutsche.de: Also besser die Notbremse ziehen – und raus aus Afghanistan?
Bahr: Ich würde mir wünschen, dass man sich über die Lagebeurteilung klar wird. Ich möchte eine realistische Analyse. Dann muss man entsprechende Entscheidungen fällen. Vor solch einer Analyse im Bündnis sollte es keinen deutschen Alleingang geben – danach aber können wir alleine entscheiden.
sueddeutsche.de: Müssen wir nicht allein schon deshalb vor Ort bleiben, um ein Wiedererstarken von al-Qaida zu verhindern? Der SPD-Politiker Struck hat ja gesagt: „Die Freiheit wird auch am Hindukusch verteidigt.“
Bahr: Das Zitat kann nicht aus dem zeitlichen Zusammenhang gerissen werden. Jetzt geht es um die Verantwortung für das eigene Land und für die Menschen. Und man kann nicht trennen zwischen Irak und Afghanistan – das werden zunehmend kommunizierende Röhren. Ich kann doch keine Position einnehmen, die ignoriert, wenn eine Sache mit den vorhandenen Kräften nicht machbar ist. Das ist doch keine Politik. Ich muss doch sagen können: „Es tut mir schrecklich leid – zum Unmöglichen ist niemand verpflichtet.“ Ultra posse nemo obligatur, haben schon die Römer formuliert.
sueddeutsche.de: Also doch: Raus aus Afghanistan.
Bahr: Ich sehe im Augenblick kein Zeichen, dass irgendwo der Silberstreif am Horizont erscheint.
sueddeutsche.de: Ist die „Leuchtturm-Politik“ der Amerikaner, die ein fremdes Land – wenn nötig mit Waffengewalt – demokratisieren wollten und mit Reformen eine gesamte Region beeinflussen wollten, endgültig gescheitert?
Bahr: Professor Amitai Etzioni von der George-Washington-Universität ist zu der Auffassung gekommen, dass die westliche Politik einen Richtungswechsel vornehmen muss. Nicht das ideologische Ziel von Demokratie sei entscheidend, sondern dass alle Staaten in gleicher Sicherheit leben. Das gilt auch für Russland, den Irak, Iran, Afghanistan und auch für China.
Egon Bahr bezog sich vermutlich auf einen Artikel von Amitai Etzioni in „Internationale Politik“ vom 1. März 2010 „Vom Stamm zum Staat“. Was er schreibt, mag mir contre coeur gehen, denn natürlich stehe ich auf der Seite derjenigen, die sich für Emanzipation, gerade auch für Frauenemanzipation engagieren. Eigentlich will ich da keine Kompromisse machen. Aber sowohl mein Alter als auch mein Beruf haben mich gelehrt, dass die besten Ziele nichts taugen, wenn sie bei meinem Gegenüber (noch? noch!) auf Unverständnis stoßen.
Etzioni führt aus „In der Debatte über Nation Building wird eine entscheidende Frage oft vergessen: Möchte man einen Staatenbau „von oben“ und quasi mit dem Dachstuhl beginnen?“
Unter der Überschrift „Wir bauen uns einen Staat“ – was ein bisschen nach Pippi Langstrumpf klingt („ich mach mir die Welt, wie mir sie gefällt“) führt er aus:
„Im Zusammenhang mit dem Nation Building in Afghanistan und ähnlich fragilen Staaten sprechen Politikwissenschaftler gerne von „Design“: Wir glauben, aus vorhandenem Rohmaterial einen modernen Staat wie am Reißbrett formen zu können, inklusive einer durchsetzungsfähigen Polizei, eines schlagkräftigen Militärs, einer effizienten Korruptionsbekämpfung, einer integren Beamtenschaft, eines vertrauenswürdigen Rechtssystems, demokratischer Institutionen und einer funktionierenden Marktwirtschaft.“
Stattdessen: „Anstatt jedoch ein Design zu entwerfen, das wir wie eine Bauanleitung benutzen, sollten wir lieber die Realitäten vor Ort genau studieren und verstehen, in welche Richtung sie sich entwickeln könnten – und zwar, bevor wir uns engagieren. Unsere Mittel und Möglichkeiten sind begrenzter als wir glauben…“
Ist natürlich frustrierend, wo „wir“ es doch so gut meinen und „die“ richtige“ Lösung haben.
Etzioni: „Wir sollten – und das halte ich für die Grundlage jeder sinnvollen Politik – aufhören zu glauben, dass wir Menschen nach unseren Vorstellungen formen und erziehen können, und stattdessen mit dem vorlieb nehmen, was wir vorfinden…“
Mag sein, dass wir seit Jahrhunderten (aber in Deutschland auch noch nicht so lange) an staatliche Strukturen gewöhnt sind. Aber dies als einzig mögliche/beste gesellschaftlich-politische Organisationsform zu betrachten, ist dümmlich.
Juno Vai schreibt am 24.8.21 im Spiegel unter der Überschrift:
Clanstrukturen – modern und effizient?
Für den US-Historiker und Soziologen Sumit Guha sind die Vorgänge in Afghanistan eine Mahnung, dass Staaten nicht die einzige Form der politischen Organisation sind. Klima und Topografie in bestimmten Gegenden der Welt würden ländliche, dezentralisierte Formen sozialer Organisation stärken – eben Clan- oder Stammesstrukturen.
Überleben sei in diesen Regionen nur über Verwandtschaftsnetzwerke möglich. Laut Guha sind Stämme kein Relikt vergangener Zeiten, sondern eine Art dynamische, gar moderne Anpassung an äußere Bedrohungen. Der Historiker beobachtet eine Zersplitterung von Staaten in »Stämme mit Flaggen«, die sich erfolgreich behaupten.
Es wäre natürlich schön, wenn jetzt Lehren aus den Fehlern in Afghanistan gezogen würden. Wollten wir die ewige Wiederholung unterbrechen, müssten wir erst mal kritisch überdenken, ob unser Verständnis von Staat und Demokratie überhaupt auf alle gesellschaftlichen Systeme anwendbar ist.“
Fazit: „Die NATO habe bis heute nicht verstanden, wie anders und eigen die afghanische Gesellschaft ticke – und dass die Verteilung der Macht in diesem Land mit keinem westlichen Land vergleichbar sei.“ Heißt es in einem Beitrag des WDR von 17.8.2021
Die Frage ist: Wer wollte „verstehen“ – außer ein paar exotischen WissenschaftlerInnen und NGO‘s ? Ist das jetzt Arroganz oder Dummheit oder beides?
Was „unser“ Modell für Afghaninnen so fragwürdig gemacht hat
Etzioni zitiert (wohlgemerkt immer noch 2010) Thomas Friedman in der New York Times: „Unsere Partner, die derzeitige Regierung in Afghanistan und die afghanische Polizei, sind so korrupt, dass nicht wenigen Afghanen die Taliban lieber sind.“
Wenn „Krieg gegen den Terror“ bedeutet, dass „gezielte Tötungen“ aufgrund von „anonymen Informanten“ (was auch ein missgünstiger Nachbar sein kann) erfolgten und zivile Opfer als „Kollateralschäden“ bezeichnet werden, dann handelt es sich womöglich nicht gerade um vertrauensbildende Maßnahmen.
Ich weiß nicht, welche Version der folgenden Geschichte stimmt: 2002 wurde angeblich eine Hochzeitsfeier bombardiert. Nein, sagt der US-Militärsprecher, man wäre vom Boden aus beschossen worden. Also reine Notwehr. Christof Reuter recherchierte vor Ort und danach verhielt es sich so: Ein Konvoi schwer bewaffneter US-Infanteristen war ins Dorf gekommen. „Es war keine Notwehr gewesen, sondern ein geplanter Angriff. Eine Stammesfraktion in Kandahar hatte ausgerechnet Verbündete von Präsident Karzai bei den Amerikanern als Taliban angeschwärzt“. Welche Version „wirklich“ wahr ist, spielt im konkreten Fall keine so große Rolle, sondern die Einsicht, dass die AfghanInnen im Laufe von zwanzig Jahren bestimmt viele Erfahrungen gemacht haben, die sie nur zu sehr berechtigten, die Invasoren nicht als „Befreier“ anzusehen. Dass da kein Unterschied gemacht wird, zwischen Handeln der Invasoren „aus eigenem Antrieb“ und Benutztwerden durch Warlords, Stammesfürsten, Politiker, die ihren Konkurrenten vor Ort eins auswischen wollten – das spielt keine Rolle.
„Milliardensummen für Bauprojekte, Straßen, Kraftwerke verdampften über die Jahre. Gerichtsurteile waren käuflich, die Korruption zerfraß den Staat. Die Bauern, zumal in den paschtunischen Provinzen, blieben arm und wurden kujoniert von den Milizionären der neuen Herrscher, die einfielen, um Taliban zu jagen, aber dann die Mandelbäume abhackten und die Dörfer plünderten… ‚Der Groll gegen alles Fremde, gegen Amerikaner, Tadschiken, Polizisten ist untrennbar genährt worden von echtem Unrecht, maßlosen Übertreibungen und Erfundenem‘, schrieben wir damals.“
Können wir das verstehen? Würden wir anders reagieren? „Es gibt keinen Plural von Selbstbetrug, aber den brauchte es im Fall von Afghanistan.“ (Christof Reuter) Mehr als unsere eigenen Selbstbetrügereien aufzudecken und mit Geduld, mit sehr, sehr viel Geduld daran zu arbeiten, zu ehrlichen, menschlichen Lösungen zu kommen, können wir nicht tun. Aber damit wären wir vollauf beschäftigt. Ich beharre darauf, zuversichtlich zu bleiben und das nicht für einen Selbstbetrug zu halten.
31. August 2021
Guter Beitrag zu Afghanistan.Tolle Fotos.