Oder: Wie eine wirkliche Katastrophe aussieht.
Vorbemerkung
Am 15. September 2020 hatte ich einen ersten Bericht von Josef Erdrich über Nepal in Corona-Zeiten hier eingestellt. Zur Erinnerung zitiere ich kurz:
Josef Erdrich hat sich seit vielen, vielen Jahren in Nepal engagiert, dort eine Schule und ein Hostel aufgebaut. Er kann die Situation absolut zuverlässig einschätzen.
Was er von Nepal schreibt, gilt ähnlich oder genauso in vielen armen Ländern. Aber das Projekt von Josef Erdrich, das im Laufe sehr gewachsen ist, hat den Vorteil, dass es überschaubar ist und man keine Angst haben müsste, das Geld versickere irgendwie. Informieren kann man sich:
www.ashaprimaryschool.com
Nummer des Spendenkontos (Gemeinnützigkeit anerkannt) für dieASHA Primary School in Nepal:
DE46 6645 0050 0000 1444 44
Heute, genau acht Monate später, ist die Lage dieses an Indien grenzenden Landes noch viel schlimmer, grausamer, verzweifelter als damals. Was damals galt, gilt heute noch viel mehr:
„Wir fürchten eher zu verhungern, als an Corona zu sterben“
Josef Erdrich hat mir dankenswerter Weise gestattet, seinen neuen Bericht hier einzustellen:
Nepal – allgemeine Lage
Das Land Nepal und seine Menschen werden von einer zweiten Welle der Corona-Pandemie
in einem dramatischen Umfang getroffen.
Sie kennen alle die Bilder aus Indien. Die Lage in Nepal ist mindestens genauso schlimm.
Nepal hat mit Indien eine ca. 1.500 km lange, nahezu offene Grenze. Nach dem Abflauen der
ersten Coronawelle in Indien im Frühjahr sind wieder viele nepalesische Tagelöhner nach
Indien zurückgekehrt um Geld verdienen zu können. Nun fliehen sie zurück nach Nepal. Alleine
in der vergangenen Woche sollen es mindestens 50.000 gewesen sein. Sie sind zum Teil
infiziert und bringen das Virus mit. Dazu kommt noch der übliche Personen- und
Warenverkehr über die Landesgrenzen.
Nepal hat am 29. April einen strengen Lockdown bis zum 14. Mai verhängt. Dieser wurde nun
gerade bis zum 27. Mai verlängert und nochmals verschärft.
Die Zahl der Menschen welche von Corona infiziert sind steigt weiter täglich an. Die Todesfälle
ebenfalls.
Es werden aktuell ca. 9.000 Neuinfektionen pro Tag gemeldet. Die Zahl der infizierten ist um
ein Vielfaches höher! Es wird nicht konsequent und flächenmäßig getestet. Dies ist in den
entlegenen Regionen und in den Dörfern überhaupt nicht möglich. Das Virus ist auch dort auf
dem Vormarsch. Laut WHO zählt Nepal zu den 2 Ländern in welchen sich Corona momentan
am stärksten verbreitet. Und die Dunkelziffer ist enorm hoch.
Es ist zu befürchten, dass der Lockdown nach dem 27. Mai bis weit in den Juni verlängert
werden muss.
Dieser Lockdown führt zu folgenden Maßnahmen bzw. Einschränkungen für die Menschen:
- Alle Bewohner werden aufgefordert zuhause zu bleiben und das Haus nur zu notwendigsten Besorgungen zu verlassen, zum Beispiel um Lebensmittel einzukaufen.
- Die Menschen dürfen nur zu Beerdigungen und dem Besuch in einem Krankenhaus außer Haus gehen.
- Die Arbeit ist einzustellen
- Der öffentliche Nah- und Fernverkehr ist eingestellt. Reisen innerhalb des Landes ist verboten
- Fahrten mit privaten Verkehrsmitteln sind untersagt
- Nur Transporte für die Lebensmittelversorgung (Großmarktbeschickung) sind täglich bis 10.00 Uhr gestattet.
- Einkäufe in Lebensmittelgeschäften oder Apotheken sind täglich nur in der Zeit von
7.00 bis 10.00 Uhr möglich. Danach sind die Geschäfte geschlossen. - Baumaterial darf nur in der Nacht von 22.00 bis 4.00 Uhr transportiert werden.
- Bauarbeiten dürfen nur an öffentlichen Gebäuden weiter durchgeführt werden.
Die Konsequenz
- Die Menschen haben keine Möglichkeit zu arbeiten und Geld zu verdienen.
- Die Lebensmittelpreise haben sich teilweise mehr als verdoppelt.
- Viele Menschen sind kaum oder nicht mehr in der Lage Lebensmittel zu kaufen weil sie keine Arbeit haben.
- Auch die Zahlung der Mieten ist dann nicht mehr möglich.Ersparnisse haben gedade die Ärmsten keine.
- Alle internationalen Flüge sind vorläufig bis Ende Mai eingestellt. Nur Flüge mit Hilfsmaterialien werden zugelassen. Leider gibt es diese so gut wie gar nicht.
- Vorläufig gibt es pro Woche noch einen Flug zwischen Indien und Nepal. Dieser ist nur für Behördenvertreter, Personen im diplomatischen Dienst usw. möglich.
- Inlandsflüge sind verboten. Nur Rettungsflüge, zum Beispiel aus der Everestregion, sind im Einzelfall nach vorheriger Genehmigung möglich.
Krankenhäuser – medizinische Versorgung
Die Lage in den Krankenhäusern ist hochdramatisch. Schon vor der Pandemie war die Anzahl der Kliniken zu gering. Durch die Pandemie kommen nun noch viel mehr Menschen welche eingeliefert werden sollten. Dies verkraften die Häuser mengenmäßig nicht. Die Ärzte welche, genau wie das Pflegepersonal, sehr qualifiziert sind können die Fülle der Probleme einfach nicht (mehr) bewältigen.
Die Lage ist besonders von folgenden Problemen geprägt:
- Es kommen durch Covid zu den üblichen Kranken viel mehr Personen welche Hilfe benötigen.
- Es gibt zu wenige Betten. Kranke liegen in den Gängen.
- Es gibt zu wenige Ärzte und Pflegepersonal für die übergroße Anzahl der Kranken.
- Teilweise sind sie auch für den Umgang mit Covidpatienten (noch) nicht ausreichend geschult.
- Es fehlt für das Personal nahezu an allem. An Schutzkleidung, Hygienematerial usw.
- Die Krankenhäuser sind übervoll. Es gibt die offizielle Verlautbarung der Kliniken und der Regierung: Bitte kommt nicht zur Klinik, bleibt zuhause, wir können niemanden mehr aufnehmen. Bleibt egal wie kranke ihr seid in häuslicher Quarantäne. Und dort leben oft 5 Personen oder mehr in einem Raum….. Eine Trennung in der Familie ist nicht möglich. Deshalb stecken sich die Leute unglaublich schnell an. Bis zum 5. März wurden 438.000 Menschen einmal geimpft. Der Impfstoff kam aus Indien. Weitere Lieferungen waren versprochen. Sie sind bis heute nicht erfolgt. Wenn man die Lage in Indien betrachtet versteht man, warum dies so ist…..
Sauerstoff
Es fehlt ausreichende Menge Sauerstoff.
- Im ganzen Land gibt es viel zu wenig Sauerstoffflaschen.
- Die leeren Flaschen können nicht schnell genug wieder befüllt werden.
- Es fehlt an entsprechenden ortsnahen Füllstationen. Nur ca. 15 % der Kliniken haben eine ortsnahe Versorgung mit Füllstationen.
- Privatpersonen versuchen nun selbst Sauerstoffflaschen zu kaufen um sie in einer konkreten Bedarfssituation oder für den Fall der Fälle zuhause benutzen zu können. Dies verschärft die Knappheit zusätzlich.
- Von China kam ein Lufttransport mit Sauerstoffflaschen. Aber auch dies ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein.
- Die Regierung überlegt Frankreich und die Türkei um Füllstationen zu bitten. Geschehen ist dies noch nicht! Man kann sich vorstellen wie lange es dauern wird bis die Stationen vor Ort sind und dann noch aufgebaut werden müssen.
- Es geschieht in Einzelfällen (hoffentlich nur), dass in den Krankenhäusern kein Sauerstoffe mehr vorhanden ist. Die Personen welche gerade noch welchen erhalten haben müssen „abgehängt“ werden. Sie werden nach Hause geschickt…..
- Aussage eines Arztes: „Ich bin es gewohnt auch einmal 48 Stunden ohne Schlaf zu arbeiten; ich bin es aber nicht gewohnt Patienten ohne Hilfe wegzuschicken und es wird noch schlimmer werden“.
- Ein Beispiel aus der Presse: Das Nepal Mediciti Hospital benötigt täglich 450 bis 500 Sauerstoffflaschen. Die Regierung hat lediglich 100 Flaschen zugeteilt. Es sind einfach nicht mehr vorhanden. In anderen Häusern ist es ähnlich, ein weiteres Beispiel: 350 Flaschen pro Tag würden benötigt, geliefert können nur 20 Flaschen werden… Die zugeteilten Quoten reichen bei weitem nicht aus. Das heißt, die anwesenden Kranken können bei weitem nicht ausreichend versorgt werden. Neue Patienten werden praktisch in allen Krankenhäusern nicht mehr aufgenommen.
Fazit zum Thema Sauerstoff:
Dies ist im Augenblick das mit Abstand größte Problem wenn jemand an Covid erkrankt. Eine schnelle Besserung zeichnet sich nicht ab. Man kann sich die Verzweiflung der Menschen vorstellen. Der Vollständigkeit halber sei noch angemerkt, dass natürlich auch bei einem Aufenthalt in der Klinik die Versorgung im Intensivbereich nicht mit unserer Situation verglichen werden kann. Es gibt im Grunde „nur“ die Versorgung mit der Sauerstoffflasche und der Maske.
Es mag einige besondere Anlagen geben. Aber es sind weniger als 200 Stück. Eine genaue Zahl gibt es nicht.
Situation an den Schulen und Hochschulen
Ein kurzer Überblick: In Nepal ist der Schuljahreswechsel immer im März eines Jahres.
- Am 24. März 2020 wurde von einem Tag auf den anderen der Lockdown verkündet. Das Schuljahr war also eigentlich beendet. Nicht alle Abschlussarbeiten konnten mehr geschrieben werden. Im Nachhinein wurden die Durchschnittsnoten des Schuljahres für ein Abschlusszeugnis herangezogen. Dies war eine absolut vernünftige Entscheidung der Regierung.
- Das neue Schuljahr hätte normalerweise im April 2020 beginnen sollen. Der Lockdown wurde zunächst immer wöchentlich, dann monatlich bis Mitte Januar 2021 verlängert. Zu diesem Zeitpunkt war die probeweise Aufnahme des Schulbetriebes wieder möglich. Zunächst mit 50 bis 60 % der üblichen Stunden. Ab März konnte wieder in vollem Umfang Schule stattfinden. Die Regierung beschloss dieses Schuljahr dann bis zum Juni 2021 zu
verlängern. Also ein „Kurzschuljahr“. - Am 29. April war jetzt wieder von einem Tag auf den anderen Lockdown. Es gibt die realistische Befürchtung, dass es aufgrund der momentanen katastrophalen Lage wieder eine Verlängerung geben muss. Vielleicht bis Ende Juni, oder länger.
- Wann nun dieses Schuljahr beendet werden soll oder kann ist völlig unklar. Folglich auch wann das nächste Schuljahr – ursprünglich geplant ab Juli 2021 – beginnen kann. Die Regelungen für die Schulen, Colleges, Hochschulen werden zentral von der Regierung beschlossen.
ASHA -Schule und Hostels
Auch die Hostels im Lande sind im gleichen Maße davon betroffen.
Dies gilt natürlich also auch für die ASHA-Schule mit den 4 Kindergartenklassen und den 5 Grundschulklassen. Insgesamt mit 180 Kindern. Und für die weiterführende SDB-Schule an welcher ehemalige ASHA-Kinder die Klassen 6 bis 10 absolvieren. Dies wird durch Patenschaften aus unserem Freundeskreis ermöglicht. Auch das Hostel musste geschlossen werden. Die Kinder mussten leider in ihre Familien zurückkehren. Im Hostel wären sie vor einer Ansteckung sicher.
An beiden Schulen und im Hostel wurde ein umfangreiches Hygienekonzept eingeführt und streng gehandhabt. Ich hatte darüber berichtet.
Bedauerlich ist, dass die Kinder nun wieder auf das für sie so wichtige Schulessen verzichten müssen. Diese regelmäßige umfangreiche Mahlzeit ist so wichtig für sie. Dies war überdeutlich zu spüren als sie nach Monaten im Januar in die Schulen zurückkehrten.
Die Eltern unserer Schulkinder kommen weitgehend aus ärmlichen Verhältnissen. Sie sind ganz überwiegend Tagelöhner. Und sie haben nun wieder ihre Arbeit und damit ihr Einkommen verloren. Ersparnisse sind praktisch keine vorhanden. Sie können sich und ihre Familie nicht mehr ernähren. Wie schon beim letzten Lockdown helfen wir diesen Familien wieder soweit irgend möglich. Im ASHA-Hostel wurde wieder eine Versorgungsstation eingerichtet. Dort können die Bedürftigen besonders die folgenden Lebensmittel erhalten:
Reis, Kartoffeln, Zwiebeln, Nudeln, Kekse, Mais, Salz, Zucker und Speiseöl.
Diese Dinge werden abgepackt und dann unter Wahrung der Distanz übergeben.
Wenn der Weg für die Personen zu weit ist, fährt Anupendra in Einzelfällen auch zu den Familien. Wegen des nochmals verschärften Lockdowns ist dies nun zu gefährlich. Den Personen wird die Möglichkeit eingeräumt in einem Ladengeschäft in ihrer Umgebung einzukaufen. Die Rechnung wird dann zentral durch uns beglichen. Es wird eine finanzielle Hilfe für die Mietzahlung gegeben. Es besteht immer die Gefahr, dass die Familien von einem Tag auf den anderen obdachlos werden. Dies muss gerade in dieser Zeit unbedingt vermieden werden. Unterstützung geben wir auch um dringend benötigte Medikamente zu kaufen oder um einen Arztbesuch zu bezahlen.
Diese Hilfe kommt einem Personenkreis zugute welcher in der jetzigen Situation kein
Einkommen und auch keine Rücklagen hat. Unterstützungen von staatlicher Seite gibt es keine. Die Menschen sind auf sich alleine gestellt.
Die Aussage in der ähnlichen Situation im vergangenen Jahr gilt auch heute mehr denn je:
„Wir fürchten eher zu verhungern, als an Corona zu sterben“.
Josef Erdrich (14.05.21)
Fundstellen und Informationsquellen:
Dr. Roshana Shrestha
Anupendra Acharya, Schulleiter
Lektüre von nepalesischen Zeitungsartikeln welche ich praktisch jeden Tag von
Roshana Shrestha erhalte, wie:
Kathmandu Post
The Guardian und einige mehr
Diverse Onlineforen
BBC
Soziale Medien
Teilnahme hier in Deutschland in verschiedenen Foren in Zoom-Meetings mit diversen NGO‘s