Mit dieser Überschrift würdigt BILD das Eingeständnis von Herrn Spahn, dass mit dem heutigen Wissen z.B. Friseure wegen Corona ihren Laden nicht hätten dichtmachen müssen. Die Presse ist beeindruckt! Ein Politiker, der Fehler eingesteht! Wie menschlich groß! Wann hat es das zuletzt gegeben? Da muss man lang in der Geschichte zurückgehen.
Der Spiegel mosert zwar ein wenig rum. Das sei keineswegs ein Fehlereingeständnis, sondern lediglich die Feststellung, dass man Entscheidungen nur entsprechend dem aktuellen Wissensstand treffen könne. Mithin keine Entschuldigung, sondern das genaue Gegenteil.
Richtig ist zunächst, dass Entscheidungen nur nach dem gegenwärtigen Wissen getroffen werden können. Betonung liegt auf „zunächst“. Niemand wird einer Regierung vorwerfen (sollte es zumindest nicht!), dass sie in einer unklaren Situation eher übervorsichtig oder zu massiv reagiert. Dass in solchen Situationen Dinge verordnet werden, die sich im Nachhinein als übertrieben und unnötig herausstellen – geschenkt. Aber zum einen bedeutet das keine Generalabsolution für alles und jedes: Wenn ich auf der Autobahn bei 130 km/h in einiger Entfernung eine unklare Situation wahrnehme und daraufhin sofort eine rabiate Vollbremsung hinlege – ich glaube nicht, dass ich bei einem Unfall mit der Erklärung durchkäme, das sei halt meine Reaktion auf eine unklare Verkehrssituation gewesen. Hinterher sei es leicht, klüger zu sein. Sondern ich würde mit Recht auf meine Pflicht hingewiesen, verhältnismäßig zu handeln.
Ich mag jetzt nicht die ganze Liste der Unverhältnismäßigkeiten runterbeten, die unendlich viel Leid, Kosten und Folgekosten verursacht haben, verursachen und verursachen werden. Habe ich genügend drüber geschrieben. Ich möchte nur an die Kleinigkeit erinnern, dass vor nicht allzu langer Zeit in Bayern niemand alleine auf einer Parkbank sitzen und ein Buch lesen durfte. Söders Beliebtheitswerte gingen daraufhin steil durch die Decke. Nach oben, wohlgemerkt.
Also: Generalabsolution ist nicht. Aber auch mit der Zubilligung „mildernder Umstände“ sollte man nicht zu großzügig sein. Denn das Argument „Wir konnten das damals gar nicht wissen“ verdient eine genauere Betrachtung. Einverstanden: Wie sich Corona ausbreitet, wie gefährlich es unter welchen Umständen für wen ist – das war im März und auch danach nicht klar. Aber dass es nicht Ebola ist – daran bestand nie ein Zweifel. Zudem gab es von Anfang an renommierte Leute, die RKI-abweichende Ansichten vertraten. Ich hatte eher nicht den Eindruck, dass die gehört wurden. Vielmehr wurden sie diffamiert, mindestens ignoriert.
Was man aber auch schon im Februar, im März wissen konnte: Es hat Auswirkungen, wenn man alles, wirklich alles unter den Primat „Bekämpfung von Corona“ stellt. Es ist nur zum Teil das (zweifelhafte) Vergnügen, recht gehabt zu haben, das mich auf zwei meiner Kolumnen vom März verweisen lässt. http://(https://ursula-neumann.de/corona-die-wahrgebungsgesellschaft/ https://ursula-neumann.de/unsere-taegliche-triage/?cn-reloaded=1). Sondern mir geht es um was anderes: Was ich (und andere) ohne Beraterstab, ohne Angestellte, die für einem recherchieren, ohne die Möglichkeit, diese oder jene Kapazität anzurufen und um ihre Meinung zu bitten… wenn mir also diese Schlussfolgerungen bereits im März einfach mittels gesundem Menschenverstand möglich waren, dann greift nicht „Tschuldigung, aber das konnten wir damals noch nicht wissen“. Doch! Doch! Doch! „Unwissenheit schützt vor Strafe nicht“. Oder um das deutsche Strafgesetzbuch § 17(1) zu zitieren: „Fehlt dem Täter bei Begehung der Tat die Einsicht, Unrecht zu tun, so handelt er ohne Schuld, wenn er diesen Irrtum nicht vermeiden konnte.“ Will irgendjemand behaupten, dass „dieser Irrtum“ – ich meine: in toto, nicht was einzelne Fehlentscheidungen angeht – für die politische Klasse unvermeidbar war?
Jetzt stellt sich die spannende Frage: Wieso reagiert die Presse (und ich denke: ähnlich die Mehrheit der Bevölkerung) auf die Spahnsche Bemerkung nicht mit „So einfach kommst du uns nicht davon!“ Sondern es wird eher von „menschlicher Größe“ schwadroniert. So ein bisschen scheint sich das auch Jagoda Marinic in ihrem (ziemlich) guten Kommentar „Das Schweigen“ vom 4.9.20 in der Süddeutschen zu fragen: “Ist es nicht bezeichnend für die Übervorsichtigkeit des derzeitigen medialen Diskurses, dass der Gesundheitsminister Jens Spahn die erste Selbstkritik vor Demonstranten in Bottrop äußert, statt auf kritische Nachfragen von Pressevertretern hin?“ (https://www.sueddeutsche.de/politik/kolumne-das-schweigen-1.5019477).
Ja, es ist bezeichnend. Aber warum? Nichts leichter als das zu beantworten: Stellen wir uns einfach mal vor, heute, im September 2020 hätte die kreuzbrave, regierungsaffine Presse samt aller Leute, die bislang den Kurs der Regierung seit Monaten dankbar priesen, kritisch gefragt: „Was haben Sie sich denn eigentlich dabei gedacht?“. Tja, das wäre ziemlich blöd gekommen. Herr Spahn selbst hätte zwar vermutlich nicht gesagt: „Wieso, ihr seid ja alle dabei gewesen und fandet es prima!“ Aber insgeheim wüsste jeder und jede: Wenn ich jetzt den Mund aufmache, muss ich mich an der eigenen Nase fassen.
Und wer tut das schon gern?
Das Schlusswort überlasse ich (gern) einem Leser-Kommentator des oben genannten Spiegel- Artikels:
„Früher wars‘ mal so, dass Medien auf Fehler der Politik hingewiesen haben.
Heute geben Politiker, siehe Spahn, aus freien Stücken zu, dass etwas falsch gelaufen ist.
Was macht der Spiegel?
Wie wir lesen besteht überhaupt kein Grund, an dem etwas zu bekritteln, was gemacht worden ist!
Das kommt dabei heraus, wenn Medien ihre Aufgabe darin sehen, das Sprachrohr der Politik zu spielen.“