Nicht nur in der Ukraine ist Krieg!
Zehn Wochen Krieg in der Ukraine, nun ja es ist alles relativ: der Krieg in Syrien dauert schon elf Jahre – nicht Wochen!
Die Welt titelt am 14.12.2020 „Weltweit 29 Kriege und bewaffnete Konflikte in diesem Jahr„ . Der Weser- Kurier gibt am 19.3.2022 eine Übersichtskarte „In diesen Ländern wird aktuell gekämpft“.
Von manchen Kriegen wissen wir gar nichts, von manchen wollen wir nichts wissen. Ich versuche das im Hinterkopf zu behalten, obwohl es mir genauso geht: über den Ukraine-Krieg denke ich viel mehr nach, lese viel mehr als über jeden anderen kriegerischen Konflikt.
„Der Feind “ – ein Mensch!
Ich versuche zu verstehen, was zu einer friedlichen Zukunft notwendig ist. Im Moment lese ich allerdings viel öfter Dinge, die Hass und Feindschaft zementieren: „der Feind“ wird nicht mehr als Mensch gesehen. Ja, auch ich fühle eine „klammheimliche Freude“, wenn ich höre, dass ein russisches Bataillon komplett aufgerieben wurde. Ich muss mich zur Ordnung rufen: das sind 1000 Menschen. MENSCHEN!
Leichen russische Soldaten sollen angeblich in ukrainischen Kühlwaggons lagern, bis sie der russischen Seite übergeben werden können. Ihren Frauen, ihren Kindern, ihren Müttern, ihren Vätern.
Ich denke an eine Kurzgeschichte, vielleicht von Camus? Ich kann sie nicht finden. Der Inhalt: Ein Soldat brennt darauf, endlich so einen Nazi-Deutschen zu killen. Er redet von nichts anderem, malt sich den Triumph aus. Und dann hat er ihn getötet, und alles ist anders: Beim Anblick des Toten kann er nur noch sagen „Le pauvre – der Arme“. Die Menschlichkeit hat in wieder, weil er grausam erinnert wird: mein Feind – das ist keine Bestie, das ist ein Mensch.
Es ist nicht leicht, beide Wahrheiten gleichzeitig zu wissen: das ist mein Feind – das ist ein Mensch.
„Luftschlag – trifft garantiert die Richtigen“
Wie viel blanker Hass und Herrenrasse-Verachtung im Moment „den Russen“ entgegengebracht wird, kann man in einschlägigen Foren – „Volkes Stimme“ im digitalen Zeitalter – nachlesen. Ich zitiere aus einem Spiegel-Forum, in dem es darum geht, dass „die Russen“ den Ukrainern riesige Mähdrescher gestohlen haben, diese aber im fernen Russland wegen entsprechender Sicherheitssysteme nicht zum Laufen kriegen.
„Leider hat die Firma keinen Sprengstoff in dem Mähdrescher installiert. Wenn der Dieb seinen Raub den anderen Schurken vorzeigen will fliegt er in die Luft.“
„Luftschlag auf die GPS Position! Das wäre mal eine super Massnahme! Trifft garantiert die Richtigen.“
„Mein Opa erzählte noch, daß nach dem 2. Weltkrieg russische Soldaten Wasserhähne abmontierten, weil sie es toll fanden, daß in Deutschland Wasser aus der Wand kommt, während sie es zu Hause aus dem Brunnen holen mußten.“
„Das erinnert mich an eine Geschichte, in welcher ein russischer Soldat einem einfachen Bürger das Fahrrad abgenommen haben soll. Dabei konnte er gar nicht Fahrrad fahren…“
„Putin und die leider auch die Russen machen sich lächerlich und beweisen Tag für Tag was für strohdumme und aggressive Menschen ohne jegliche Moral sie sind.“
„Was bekommen die Russen ausser Zerstörung denn überhaupt hin? Ich weiss es, nichts!“
Eine Lehre: Was ist aus der Erbfeindschaft zwischen Deutschen und Franzosen geworden?
Ich wohne 15 km von der französischen Grenze. „Die da drüben“ waren mal unsere „Erbfeinde“. Ist so lange gar nicht her. Ludwig XIV. verwüstete die Gegend in der ich heute lebe und die Deutschen verwüsteten 1870, im Ersten Weltkrieg im Zweiten Weltkrieg was sie verwüsten konnten – und die Franzosen zahlten mit gleicher Münze heim .
Kann man sich heute noch ein Krieg zwischen Frankreich und Deutschland vorstellen? Undenkbar! Wie funktioniert das? Es ist offensichtlich möglich, aus dem Hass Freundschaft werden zu lassen!
Ich war 15 Jahre alt, da sprach General de Gaulle, der im Zweiten Weltkrieg die französische Resistance gegen die deutsche Besatzung führte, in Ludwigsburg. Am 9. September 1962 hielt er die „Rede an die deutsche Jugend“ Ich saß damals vor dem Radio, und ich erinnere mich noch an ein Detail: als der Satz fiel „Ich beglückwünsche Sie ferner, junge Deutsche zu sein, das heißt Kinder eines großen Volkes. Jawohl! eines großen Volkes!“, da rief eine junge Frau laut „Bravo“. Mir war das ein bisschen peinlich. Aber de Gaulle hat wohl genau mit diesem Satz eine Brücke gebaut. Diese Rede (und vieles andere natürlich!) half, dass zwischen Deutschen und Franzosen nach Jahrhunderten etwas Neues möglich wurde. Es war eine Rede des Respekts, der Wertschätzung und des Vertrauens. Eine Rede, die eine Vision zeichnete: Wir können eine andere Zukunft gestalten, Ihr könnt eine andere Zukunft gestalten.
Ich bin sicher, diese Rede ist in Frankreich nicht überall gut angekommen. Es wird Vorwürfe gegeben haben: „Bagatellisierung unseres Leids!“ -„Dumme Naivität gegenüber Aggressoren!“ – „Verrat!“ – „Die verstehen nur eine Sprache: Unversöhnlichkeit!“ – „Wir wurden nicht gefragt – wir verzeihen nicht!“ Und was weiß ich alles.
De Gaulle hat sich darüber hinweggesetzt. Gerade deshalb ist es eine Rede, die verdient, gerade heute, 60 Jahre später, ins Gedächtnis gerufen zu werden. Nicht nur ins Gedächtnis gerufen, sondern nachgeahmt zu werden!!
De Gaulle, Charles: Rede an die deutsche Jugend vom 9. September 1962 (Ludwigsburg)
Sie alle beglückwünsche ich! Ich beglückwünsche Sie zunächst, jung zu sein. Man braucht ja nur die Flamme in Ihren Augen zu beobachten, die Kraft Ihrer Kundgebungen zu hören, bei einem jeden von Ihnen die persönliche Leidenschaftlichkeit und in Ihrer Gruppe den gemeinsamen Aufschwung mitzuerleben, um überzeugt zu sein, dass diese Begeisterung Sie zu den Meistern des Lebens und der Zukunft auserkoren hat.
Ich beglückwünsche Sie ferner, junge Deutsche zu sein, das heißt Kinder eines großen Volkes. Jawohl! eines großen Volkes!, das manchmal im Laufe seiner Geschichte große Fehler begangen hat. Ein Volk, das aber auch der Welt fruchtbare geistige wissenschaftliche, künstlerische und philosophische Wellen beschert hat, das die Welt um zahlreiche Erzeugnisse seiner Erfindungskraft, seiner Technik und seiner Arbeit bereichert hat; ein Volk, das in seinem friedlichen Werk, wie auch in den Leiden des Krieges, wahre Schätze an Mut, Disziplin und Organisation entfaltet hat. Das französische Volk weiß das voll zu würdigen, da es auch weiß, was es heißt, unternehmens- und schaffensfreudig zu sein, zu geben und zu leiden. Schließlich beglückwünsche ich Sie, die Jugend von heute zu sein. Im Augenblick, wo Sie in das Berufsleben treten, beginnt für die Menschheit ein neues Leben. Angetrieben von einer dunklen Kraft, auf Grund eines unbekannten Gesetzes, unterliegen die materiellen Dinge dieses Lebens einer immer rascheren Umwandlung. Ihre Generation erlebt es und wird es noch weiter erleben, wie die Gesamtergebnisse der wissenschaftlichen Entdeckungen und der maschinellen Entwicklung die physischen Lebensbedingungen der Menschen tief umwälzen. Dieses wunderbare Gebiet, das Ihnen offen steht, soll durch diejenigen, die heute in Ihrem Alter stehen, nicht einigen Auserwählten vorbehalten bleiben, sondern für alle unsere Mitmenschen erschlossen werden. Sie sollen danach streben, dass der Fortschritt ein gemeinsames Gut wird, sodass er zur Förderung des Schönen, des Gerechten und des Guten beiträgt, überall und insbesondere in Ländern wie den unseren, welche die Zivilisation ausmachen; somit soll den Milliarden der in den Entwicklungsländern Lebenden dazu verholfen werden, Hunger, Not und Unwissenheit zu besiegen und ihre volle Menschenwürde zu erlangen.
Das Leben in dieser Welt birgt jedoch Gefahren. Sie sind umso größer, als der Einsatz stets ethisch und sozial ist. Es geht darum zu wissen, ob im Laufe der Umwälzungen der Mensch zu einem Sklaven in der Kollektivität wird oder nicht; ob es sein Los ist, in dem riesigen Ameisenhaufen angetrieben zu werden oder nicht; oder ob er die materiellen Fortschritte völlig beherrschen kann und will, um damit freier, würdiger und besser zu werden.
Darum geht es bei der großen Auseinandersetzung in der Welt, die sie in zwei getrennte Lager aufspaltet und die von den Völkern Deutschlands und Frankreichs erheischt, dass sie ihrem Ideal die Treue halten, es mit ihrer Politik unterstützen und es, gegebenenfalls, verteidigen und ihm kämpfend zum Sieg verhelfen.
Diese jetzt ganz natürliche Solidarität müssen wir selbstverständlich organisieren. Es ist die Aufgabe der Regierungen. Vor allem müssen wir ihr aber einen lebensfähigen Inhalt geben, und das soll insbesondere das Werk der Jugend sein. Während es die Aufgabe unserer beiden Staaten bleibt, die wirtschaftliche, politische und kulturelle Zusammenarbeit zu fördern, sollte es Ihnen und der französischen Jugend obliegen, alle Kreise bei Ihnen und bei uns dazu zu bewegen, einander immer näher zu kommen, sich besser kennen zu lernen und engere Bande zu schließen.
Die Zukunft unserer beiden Länder, der Grundstein auf dem die Einheit Europas gebaut werden kann und muss, und der höchste Trumpf für die Freiheit der Welt bleiben die gegenseitige Achtung, das Vertrauen und die Freundschaft zwischen dem französischen und dem deutschen Volk.“
Ihr Generäle, Politikerinnen, DichterInnen, Intellektuellen, WissenschaftlerInnen, LehrerInnen, es ist höchste Zeit, dass ihr Euch an Eure Schreibtische setzt und die Rede General der Gaulles zum Vorbild nehmt und selbst zum Vorbild werdet! Es sind viele Reden notwendig und es werden viele Reden notwendig sein und vieles, sehr vieles andere auch!
Aber ihr seht, wir alle können sehen: Frieden ist möglich.