„Die Tugendkrieger“
„Zu große Einigkeit in moralischen Fragen kann gefährlich sein.“ So lautete der Untertitel eines Artikels von Sebastian Herrmann „Die Tugendkrieger“ , der es auf die erste Seite der Süddeutschen Zeitung vom 23.12.21 geschafft hat. Das fand ich zwar gut, aber doch auch überraschend. Denn die Süddeutsche Zeitung strickt nach meinem Empfinden in diesen Corona-Zeiten auch kräftig am „Wir, die Guten – Ihr, die Bösen/Dummen/Verblendeten“. Schon möglich, dass die Redaktionskonferenz der Süddeutschen diesen Aspekt gar nicht im Auge hatte, denn in dem Artikel ging es mindestens tendenziell darum, wohin rechte Soziale-Netzwerk-Blasen führen. Allerdings: was über die amerikanische Untersuchung referiert wird, erhebt den Anspruch genereller Geltung. Das ist bedenkenswert.
Ich fürchte aber, bedenkenswert werden es vor allem die finden, die es nicht so nötig hätten und die, die es nötig hätten, werden es überlesen oder in der Schublade ablegen, in die „Kuriositäten“ kommen.
Ich zitiere:
„Hohe Übereinstimmung in moralischen Fragen kann Gruppen radikalisieren, egal, welche Überzeugungen diese nun teilen. Wenn sich alle einig sind, bereitet dies die Bühne für die Scharfmacher. Das gilt für Linke, das gilt für Rechte, für Religiöse, für Atheisten und für alle anderen auch, die hier zwar nicht aufgezählt, aber mit gemeint sind [..] Geteilte ethische Überzeugungen führten zu enormem Zusammenhalt und der Überzeugung, es sei moralisch geboten, die Gegenseite niederzumachen […] Andersmeinende verwandeln sich dann zu Feinden, die in den Augen der Rechtgläubigen hart angepackt gehören.“
Paternalistisch „hart anpacken“ mit Nikolaus Blome vom Spiegel
Hart packt Nikolaus Blome an oder zu, unter einem paternalistisch-wohlwollenden Mäntelchen. Blome, der mal für BILD und mal für den SPIEGEL tätig ist, schreibt am 27.12.21 gegen den laxen oder verleugnenden Umgang von Kanzler Scholz mit Impfgegnern:
Scholz und sein Umgang mit Impfgegnern – Kanzlers »Cancel Culture«
„Damit wir uns klar verstehen: Ich habe schon vor einem Jahr einer generellen Impfpflicht das Wort geredet und halte weiterhin soziale Nachteile im Alltag für legitim, um Druck auf (freiwillig!) Ungeimpfte auszuüben, sich doch noch impfen zu lassen. Dennoch werbe ich – nicht ganz überraschend – für eine Art patriarchalischen, konservativen Blick auf das Ganze: Auch die schwarzen Schafe gehören zur Herde, die es als Ganzes zu hüten gilt. […] Ja, als unterbelichtet und pflichtvergessen kann man freiwillig Ungeimpfte durchaus ansehen. Aber sehen muss man sie, im Osten zumal, wo viel zu viele das Gefühl haben, überhaupt nicht gesehen zu werden.“
Das ließ mich im Forum schreiben:
„‘Auch die schwarzen Schafe gehören zur Herde, die es als Ganzes zu hüten gilt.‘ Ach, was bin ich dankbar für den guten Hirten Blome. Mäh!“
Einmal mehr wurde dieser harmlose Kommentar von mir erst nach meiner mahnenden Mail und dann noch viele Stunden später veröffentlicht, als längst ein halbes Dutzend neue Artikel erschienen sind. Ich werde den Verdacht nicht los: Der SPIEGEL hat was gegen mich.
Julian Nida-Rümelin: Demokratie ist nicht gleich Mehrheitswillen
Beim Spazierengehen höre ich derzeit Julian Nida-Rümelin. Der war mal in einem Kabinett von Kanzler Schröder für Kultur zuständig und schämt sich vermutlich noch heute dafür mit diesem in Verbindung gebracht zu werden. Jetzt scheint er stellvertretender Vorsitzender des Deutschen Ethikrates zu sein, was mir wirklich noch nicht aufgefallen ist.
Aber seine Vorlesung zu Politik und Ethik (ich glaube von 2007 oder 2008) ist einfach exzellent. Sie brachte mich schon kürzlich dazu, nachzuschauen, was das Bundesverfassungsgericht vor noch nicht allzu langer Zeit zur Verhältnismäßigkeit zu sagen wusste: Darf man ein Flugzeug mit unschuldigen Passagieren abschießen, wenn es sich in Hand von Terroristen befindet, die es zu einem Anschlag verwenden wollen, bei dem ein Vielfaches von Opfern zu erwarten wäre.
Vor ein paar Tagen wiederum hörte ich, was Julian Nida-Rümelin zu der verbreiteten, aber verkehrten Ansicht meinte, Demokratie definiere sich dadurch, dass in ihr Mehrheitsentscheidungen gelten. Mitnichten! Da Professoren ihre Ansichten nicht nur in einer Vorlesung von 2007 oder so äußern, sondern immer und immer wieder, fand ich auch einen entsprechenden Passus aus Corona-Zeiten, den ich hier zitieren möchte. Wobei das ganze Interview lesenswert ist!
[...] Ich behaupte mal, wenn Sie auf die Straße gehen und Leute fragen, was ist Demokratie, antworten neun von zehn: wenn die Mehrheit entscheidet. Und das ist falsch. Die Demokratie ohne die Garantie individueller Rechte und Freiheiten ist keine Demokratie. […] Es gibt keine Demokratie ohne Rechtsstaatlichkeit, es gibt keine Demokratie ohne die Garantie individueller Freiheiten und Rechte. Warum? Weil Mehrheit zu nichts legitimiert, sondern das, was legitimiert, ist die Zustimmungsfähigkeit einer politischen Ordnung. Stellen Sie sich einmal vor, Sie lebten in einer Kultur, in der – das gibt es ja weltweit oft genug – sechzig Prozent die eine Sprache sprechen und vierzig Prozent eine andere Sprache und mit diesen zwei Sprachen auch kulturelle Unterschiede und unterschiedliche Interessen einhergehen. Wenn Sie dort eine Demokratie ohne Minderheitenschutz, ohne Individualrechte etablieren würden, was keine echte Demokratie wäre, dann hätten Sie dort schlicht eine Diktatur von sechzig Prozent über vierzig Prozent. Eine Diktatur kann keine Demokratie sein. Das heißt, wir sitzen einem weit verbreiteten Selbstmissverständnis der Demokratie auf, wenn wir sie auf ein Entscheidungsverfahren reduzieren. […]
Und was heißt das für die aktuelle Corona-Situation?
So, und jetzt kommen wir in den Bereich der Infektionskrankheiten aufs Glatteis. Manche wollen das nicht gerne hören, aber die saisonalen Grippen ziehen viele Todesfälle nach sich. In den Jahren 2017/18: 25.100 Tote gemessen vom RKI nach Exzess-Mortalität, also Übersterblichkeit. Aber das ist nicht ein einsamer Ausrutscher,[…] Wir waren bislang der Meinung, dass einzige, was man da tun kann: Empfehlungen abgeben, wenn man gefährdet oder älter ist, sich impfen lassen. Punkt. Mehr haben wir nicht getan. Niemand, der mit Grippe an seinen Arbeitsplatz gekommen ist, wurde deswegen bestraft oder ins Gefängnis gesperrt, natürlich nicht. Und jetzt haben wir eine Herausforderung durch Covid-19, die, jedenfalls anfangs, als wesentlich gefährlicher eingeschätzt wurde – im Faktor 10. Das RKI und die WHO kamen zum Ergebnis, die Letalität liege bei drei, vier, fünf, sechs, sieben Prozent. Unterdessen gehen die Schätzungen immer weiter zurück, aber es sieht so aus, dass die Letalität immer noch deutlich über der einer saisonalen Grippe liegt, aber nicht mehr dramatisch drüber, wie das ursprünglich geschätzt wurde. Jetzt ist es schon legitim darüber nachzudenken, was an Eingriffen in die individuelle Freiheit gerechtfertigt ist und was nicht.
„Das macht die Demokratie aus, dass wir Diskussionen führen, sonst sind wir nicht in einer Demokratie, sonst sind wir in einer Diktatur.“
[…] Ich sage jetzt mal bewusst, wir müssen sehr aufpassen, dass wir den Diskurs nicht erneut an die Wand fahren, wie wir das mal 2015/16 in der Migrationskrise gemacht haben: zwei Drittel Rechtgläubige gegen ein Drittel Unbelehrbare. Wir wiederholen dieses Muster gegenwärtig und das ist ganz, ganz schlecht. Es gibt sehr differenzierte Stellungnahmen. Es gibt auf beiden Seiten Menschen, die nicht selbst denken, sondern nur nachplappern, was sie hören und manchmal auch Unfug nachplappern – auf beiden Seiten. Ich habe immer die Maßnahmen verteidigt. Es war auch wegen der Situation damals unumgänglich, Maßnahmen zu ergreifen. Die Hinweise verdichten sich, dass der Lockdown in Italien, in Deutschland, in Frankreich und in England nicht so effektiv war, wie man sich das vielleicht gewünscht hat. Möglicherweise war der Lockdown in Deutschland sogar nicht nötig. […] Also da sind wir noch in einer Suchbewegung und ich mache da niemandem leichtfertig Vorwürfe, aber es muss möglich sein, diese Dinge zu debattieren. Das hat mich am meisten auf die Palme gebracht, als unsere sonst sehr besonnene Bundeskanzlerin sagte, für Diskussionen ist es zu früh. Nein, ist es nie. Das macht die Demokratie aus, dass wir Diskussionen führen, sonst sind wir nicht in einer Demokratie, sonst sind wir in einer Diktatur.“
Friedrich Schiller: „Was ist Mehrheit? – Mehrheit ist Unsinn“
Und – als wäre der Zitate noch nicht genug – zum Schluss möchte ich auf Friedrich Schiller (Demetrius) verweisen:
Was ist die Mehrheit?
Was ist die Mehrheit? Mehrheit ist der Unsinn,
Verstand ist stets bei wen’gen nur gewesen.
Bekümmert sich ums Ganze, wer nicht hat?
Hat der Bettler eine Freiheit, eine Wahl?
Er muß dem Mächtigen, der ihn bezahlt,
um Brot und Stiefel seine Stimm‘ verkaufen.
Man soll die Stimmen wägen und nicht zählen;
der Staat muß untergehn, früh oder spät,
wo Mehrheit siegt und Unverstand entscheidet.