23.5.2021 Verfassungstag

Seit 72 Jahren ist das Grundgesetz in Kraft. Wenn der ehemalige Bundespräsident Gustav Heinemann auf die Frage, ob er den Staat liebe, kühl beschied: „Ich liebe nicht den Staat, ich liebe meine Frau“, so lässt mich das etwas zurückhaltend werden mit der Aussage: ich liebe das Grundgesetz. Aber mein Bezug zu unserer Verfassung ist schon emotional: ich bin stolz auf sie und fühle Zuneigung für sie.

Aber 2020 f. habe ich Angst um sie.

 

Wie Grundrechte plötzlich zweitrangig geworden sind

Gerade lese ich von Heribert Prantl „Not und Gebot – Grundrechte in Quarantäne“. Was er an Reaktionen auf seine kritische Haltung zu Corona Maßnahmen schreibt, ist mir selbst vertraut. Auch ich bekam so Ähnliches zu hören wie er: „Hören Sie doch endlich einmal auf mit Ihren Grundrechten!“ Ein anderer meinte, ein guter Impfstoff gegen Covid-19 sei ihm lieber als der Grundrechtskatalog. (S.12)

Wer aber bei Corona absoluten Lebensschutz zur Maxime erhebt, der macht Politik unmöglich“ (ebda), meint Prantl und erinnert daran, wie wenig von diesem Grundsatz des „absoluten Lebensschutzes“ in anderen Bereichen zu spüren ist, von den Toten, die durch versäumte Klimaschutzpolitik, durch schlechte Verkehrspolitik, durch Waffenexporte verursacht werden. Oder auch durch ein eher an der Maxime der Wirtschaftlichkeit als an dem Prinzip „Leben retten“ orientiertes Gesundheitssystem, durch mangelhafte Ausstattung von Jugendämtern und Institutionen, die sich um gefährdete Kinder kümmern… Und und und… füge ich hinzu.      

 

Ist China wirklich unser Vorbild?

„… Und nicht wenige schauen mit sehnsüchtigen Augen nach Fernost, wo der Big Brother zur Prävention von Corona, noch viel bigger ist als in Europa – wo die Kreditkartendaten an die staatlichen Stellen weitergemeldet werden, wo Überwachungskameras dicht an dicht stehen: wo Menschen ein iPhone bei sich tragen müssen, mit dem ihre Bewegungen nachverfolgt werden können (und wer kein Handy hat, kriegt einen Token, eine Art Bewegungsmelder, an den Schlüsselbund).

Das war auch etwas, was mich erschütterte: wie kritiklos (gerade auch in Medien) plötzlich China, aber auch Südkorea, Taiwan und Japan zu nachahmenswerten Vorbildern im Kampf gegen Corona avancierten – ohne die geringste Reflektion darüber ‚Welcher Preis ist dafür zu zahlen?‘.  Manch ein Befürworter würde sich umgucken!

Ich antworte mit einem Wort eines amerikanischen Präsidenten, Benjamin Franklin: Those who would give up essential Liberty, to purchase a little temporary Safety, deserve neither Liberty nor Safety.  

„Die, die wesentliche Freiheiten aufgeben würden, um ein bisschen mehr vorübergehende Sicherheit zu erreichen, verdienen weder Freiheit noch Sicherheit.“

 

Die Verhältnismäßigkeit – „kein Wischi-Waschi-Satz“      

„… Der Bundestag hat es billigend in Kauf genommen, dass mit kleinem untergesetzlichem Recht große fundamentale Entscheidungen getroffen wurden… Und also wurde verordnet, dass selbst das Sitzen auf einer Parkbank als Gefahrenquelle für das Gesundheitssystem zu gelten habe… Nicht die Freiheit muss sich rechtfertigen, sondern ihre Beschränkung und Begrenzung: So lernen es die Juristen schon im Anfängerseminar. In der Corona-Zeit begann dieser Satz zu wackeln und zu bröckeln. Daher war die Lehre von der Verhältnismäßigkeit der Mittel noch nie so wichtig wie in der Corona-Krise… Der Satz von der Verhältnismäßigkeit der Mittel ist kein Wischi-Waschi-Satz. Es ist ein Satz mit Substanz, ein Kernsatz des Rechts. Und ‚Maß halten‘ – das ist kein Wort zum Schmunzeln, sondern ein Wort, das die Grundrechte vor übermäßigen Eingriffen schützen soll.“ (S.8ff.)   

Das Versammlungsverbot wurde im März und April 2020 ‚ohne Sinn und Verstand exekutiert‘, so analysiert das Oliver Lepsius, Professor für Öffentliches Recht in Münster. Er konstatierte eine ‚regelrechte Lust‘ der Exekutive, ihre Macht zu demonstrieren. Es gab und gibt aber auch die Lust, sich dieser Macht zu unterwerfen und deren Anforderungen noch zu überbieten, weil man hofft, so die Gefahr zu Bannen. Im Kleinen, unter Nachbarn, blüht das Denunziantentum.“ (S.18)

 

Der autoritäre Charakter – er lebt!

Nach 72 Jahren liberalem Grundgesetz, nach den 68eren, nach der antiautoritären Erziehung, die gewiss manchmal seltsame Blüten trieb, deren Grundgedanken sich aber – so hatte ich gemeint – schon durchgesetzt hätten, sehe ich, wie das zerbröselt. Und wie schnell das zerbröselt! Es macht mich fassungslos!  

Was Erich Fromm  in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts am Institut für Sozialforschung unter Max Horkheimer erarbeitet hat – es hat nach 90 Jahren mehr Gültigkeit als ich je glaubte. „Escape from Freedom“ (Erich Fromm 1941) – Flucht vor der Freiheit – das scheint heute wie damals eine Sehnsucht von uns zu sein. Die Menschen „fliehen vor dieser selbstverantwortlichen Freiheit in eine konforme Sicherheit und orientieren sich an der Autorität“.

 

Macht sich verdächtig, wer sich aufs Grundgesetz beruft?

Seltsame Zeiten… wer sich auch nur kritisch zu einzelnen Corona-Maßnahmen äußert, wird nicht nur schräg angeschaut, sondern findet sich verdammt schnell unter „Verschwörungstheoretiker“ wenn nicht „Rechtsradikaler“ subsumiert. Das lässt viele verstummen. Mindestens erlebe ich gehäuft, dass einer Kritik ein Bekenntnis vorausgestellt wird: „Ich bin ganz gewiss kein Verschwörungstheoretiker, mit Rechten habe ich nichts am Hut, ja und ich bin schon einmal geimpft… ABER“

Ja, wo leben wir denn!

Prantl erinnert an die unseligen Zeiten, in der Kriegsdienstverweigerer (pardon: Wehrdienstverweigerer) penibel schriftlich und mündlich ihr Gewissen überprüfen lassen mussten.

Er zitiert den Liedermacher Franz Josef Degenhardt („Die Befragung eines Kriegsdienstverweigerers“, 1972). Der Gewissensprüfer sagt zum Prüfling:  „Grundgesetz, ja Grundgesetz, ja Grundgesetz! Sie berufen sich hier pausenlos aufs Grundgesetz. Sagen Sie mal, sind Sie eigentlich Kommunist?“  

Und heute? „Wer zu oft ‚Grundgesetz‘ sagt, macht sich verdächtig“ (S. 15).

So weit sind wir gekommen!    

Liebes Grundgesetz! Herzlichen Glück-Wunsch zum Geburtstag! Du kannst es brauchen. Mehr denn je!

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