Zwischen Geflüchtetenhilfe und Kaffeekränzchen

Im Jahr 1989 kaufte meine Mutter eine der ersten CDs für den neuen CD-Player im Hause Neumann: „Offenbachiana“ stand auf dem Cover – ein bunter Reigen an Gassenhauern von Jacques Offenbach. Der kleine Joachim ließ die CD gleich am Kauftag auf den Boden fallen, was der Hülle nicht sonderlich gut bekam und dem kleinen Joachim noch weniger. In den darauffolgenden Tagen, Wochen und Monaten wurde die CD häufig gehört, nicht nur von meiner Mutter, sondern auch von mir. Offenbach hatte es mir so angetan, dass ich mir bald darauf „Orpheus in der Unterwelt“ als Gesamteinspielung schenken ließ. Ich vermute, dass meine Mutter insgeheim bereut hat, mich mit dem Kölner Komponisten in Kontakt gebracht zu haben, denn der Cancan und andere Stücke liefen fortan in Dauerschleife. Der kleine Joachim aber profitierte davon: Er bekam zum folgenden Weihnachtsfest seinen eigene Stereoanlage.

Vor ein paar Jahren stolperte ich dann zufällig auf Spotify über verschiedene Stücke für Cello und Orchester und entsann mich: Richtig! Offenbach zwar zuallererst ein begnadeter Cellist gewesen; das Operettenkomponieren hatte er zumindest zunächst nur so nebenher gemacht. Als ich diese Stücke meiner Mutter vorspielte, konnte sie natürlich sofort sagen, aus wessen Feder sie stammten. Irgendwie schien sie jedes Musikstück irgendwann schon einmal gehört zu haben.

Ob sie auch „Les larmes des Jacqueline“ (zu deutsch: Jacquelines Tränen) gekannt hat? Vermutlich nicht, denn sonst hätte sie es sicher selbst für ihre Abschiedsfeier ausgesucht. So verdanken wir aber dieses Juwel der Solistin Anne-Schmidt-Heinrich, die es nach eigenen Angaben selbst erst vor gar nicht allzu langer Zeit kennen und lieben gelernt hatte.
Nachdem die letzte Träne geweint und getrocknet war, betrat Helga Schindler das Podest. Helga hat unsere Mutter über ihre ehrenamtliche Tätigkeit in der Geflüchtetenhilfe kennengelernt. In Eigenregie haben beide in Oberkirch 2015 Sprachkurse für geflüchtete Frauen auf die Beine bestellt. Zunächst verband beide dieses Engagement, später dann ihre Liebe zu Kaffee, Gebäck und Gesprächen. Wir danken ihr für diese überaus persönliche und einfühlsame Ansprache.

 

Helga Schindler: Zwischen Geflüchtetenhilfe und Kaffeekränzchen – Wie ich Ursula kennen und schätzen lernte

Liebe Ursula,
etliche Mails haben wir uns in den letzten Jahren geschrieben, wird Zeit, dass ich mal wieder was von mir hören lasse….
Ich weiß nicht mehr genau den Tag, an dem wir uns das erste Mal getroffen bzw. wahrgenommen haben, an den Anlass und den Ablauf erinnere ich mich allerdings klar:
Es war im Jahr 2015, während der Zeit, als es in Deutschland die Willkommenskultur gegenüber den Geflüchteten gab. Ich machte mir damals Gedanken, was dabei mein Anteil sein könnte, und dann gab es in der Mediathek eine Infoveranstaltung der Stadt Oberkirch. Verschiedene Arbeitsgruppen wurden angeboten, es sollten Ideen und Konzepte entwickelt werden, wie ehrenamtliche Personen die Strukturen der Kommune bereichern und unterstützen könnten.

Intuitiv fand ich mich am Tisch „Sprache und Kultur“ wieder. Der Moderator stelle etwas vor, woran ich mich nicht erinnere. Dabei trafen sich unsere Blicke und blieben erstaunlich lange haften. Bereits nach kurzer Zeit waren wir uns einig, was konkret wir tun würden. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir noch kein einziges Wort gesprochen und hatten keine Ahnung, wer denn die andere Frau da ist.

Wann setzte das gegenseitige Vertrauen ein? Schleichend? Als Offenbarung?

Nach der Moderation fügten wir beide zusammen, was in unseren Köpfen schon da war: einen Sprachkurs für Frauen würden wir machen, nicht abwarten was an Strukturen vorgegeben und ausgearbeitet würde. Ärmel hochkrempeln, Zeit freischaufeln, Mittwoch, 14 Uhr fangen wir an.

Nicht vorhandene Kompetenz in Pädagogik und Didaktik wurde kompensiert durch beherztes Engagement und Entschlossenheit. Wurden zu Beginn der Einheit noch irgendwo Frauen im Gebäude vermutet, deine entschiedene Aufforderung überzeugte auch die letzte Zweiflerin. Die wenigen Frauen, die eigentlich nicht an unserer Maßnahme partizipieren wollten, wurden durch Dich eines Besseren belehrt.  An Sonntagen auf dem Küchenboden gemalte Schaubilder wurden am Mittwoch exakt um 14 Uhr (Pünktlichkeit!) an die Wand gepinnt und von energischen Frauen mitunter wild fuchtelnd verdeutlicht. Du warst begeistert von deiner Idee deutsche Volkslieder vorzustellen. Diese trugen wir dann vor, kläglich und dünn gesungen, aber mit höflichem Applaus bedacht. Die Frauen sangen uns sodann ihre Lieder vor und weinten dabei. Dein und mein Applaus erstickte in der eigenen Betroffenheit. Vielleicht waren auch wir es, die am meisten lernten während dieser Stunden: Empathie, Weitblick, Dankbarkeit.

Weitaus wichtiger und realistischer als die Vermittlung von Sprachkompetenz war für dich definitiv ein anderer Aspekt: natürlich war sie nämlich da, deine Professionalität, deine jahrzehntelange Erfahrung als Therapeutin. Dein Engagement fußte auf dem ganz tiefen Wunsch, die Situation der Frauen ein kleines bisschen besser zu machen, ihnen durch deine Zeit Würde zu verleihen und Mut zur Selbstbestimmung. Für mich war deine Überzeugung jederzeit spürbar; du brauchtest keine Strukturen, keine Vorgaben, kein von offizieller Seite an die Hand genommen werden. Gelebten Humanismus zu praktizieren war dir ein intrinsisches Bedürfnis. Viele der Frauen haben sich dir anvertraut, dabei waren sie sich ganz bestimmt sicher: da will jemand das Beste für mich.

Ich hab dich zu spät kennengelernt, denke ich oft.

Ich vermisse die inspirierenden Gespräche bei handgebrühtem Kaffee und der geteilten Leidenschaft für feine Patissière. Wir wussten dabei beide, in welch privilegierter Position wir uns befinden darüber nachdenken zu können, ab wieviel Prozent Kakaogehalt eine Schokolade unverschämt gut schmeckt. Ich vermisse Deinen scharfen Blick auf die Dinge, deine differenzierte, auch unbequeme Meinung. Deinen Anspruch an dich und andere, jedwede Entscheidung reflektiert und frei zu treffen. Du hast dich gestemmt gegen den Sog der Willkür und der Dumpfheit.
Dein Spektrum zwischen resolutem Auftreten und stillen Abwarten war phänomenal. Ich denke, ich kenne niemanden mit derart vielen Ecken und Kanten. Niemanden, der so unverblümt kommentiert hat und dabei ein Mensch war durch und durch. Freiheitsliebend und einzigartig.

Du bist von uns gegangen, wie ich dich immer wahrgenommen habe, selbstbestimmt, konsequent, still und doch mit Pauken und Trompeten. In schwachen Stunden gehört dir mein Neid, in manchen Stunden auch mein Unverständnis, immer jedoch mein größter Respekt.

Liebe Ursula, ruhe in Frieden und sei frei.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Nach oben scrollen