Eigentlich lese ich wenig. Wobei das nichts mit dem Motto zu tun hat „Das wenige, das ich lese, schreibe ich selbst“. Vielmehr lasse ich mir vorlesen. Bei einer Schiffsreise erklärte ich gespielt verschämt einer Dame, die mich dauernd mit Kopfhörern sah (was nebenbei auch das Signal an meine Mitmenschen war: „Bitte nicht ansprechen“): „Wissen Sie, ich kann nämlich nicht lesen.“ – Darauf sie ebenso gespielt tröstend: „Ach, da brauchen Sie sich doch nicht zu schämen, das können viele nicht!“
Meine Hörbuchbibliothek kann sich inzwischen sehen lassen. Derzeit tue ich was für ein analytisches refreshing und höre Kernberg (erstaunlich wenig beeindruckend – milde gesagt), Riemanns „Grundformen der Angst“ (du lieber Himmel, was war ich in meiner analytischen Frühzeit davon begeistert! Aber es ist recht einfach gestrickt. Gut, als Einführung war’s sicher tauglich.) und Alexander Mitscherlich (immer noch ausgezeichnet, auch wenn eben offensichtlich manches nicht für die Ewigkeit in Stein gemeißelt ist, sondern der Zeitgeist weht und verweht).
Aber das nur nebenbei.
Richtige Bücher, die ich gerade gelesen habe bzw. lese sind:
Willi Winkler, Das braune Netz. Wie die Bundesrepublik von früheren Nazis zum Erfolg geführt wurde (Rowohlt, 2019, 22 €)
Der Werbetext des Rowohlt-Verlags hat in diesem Fall den Vorteil, korrekt zu sein. Deshalb gebe ich ihn hier wieder:
„Sie hatten ihre Karriere im Dienste des NS-Staates begonnen – und setzten sie bruchlos in der der neuen Bundesrepublik fort. So bereitwillig sie der braunen Ideologie gedient hatten, so engagiert traten sie nun für die Demokratie ein. Kriegsgerichtsräte fällten wieder ihre Urteile, einst regimetreue Professoren lehrten und die Journalisten aus den früheren Propagandakompanien schrieben, als hätten sie sich nichts vorzuwerfen. Damit gewann der junge Staat zwar politische Handlungsfreiheit zurück, gründete seinen Erfolg aber auf einen moralischen Widerspruch, der nicht aufzulösen war: Die Demokratie wurde mitaufgebaut von ihren Feinden.
Zum 70. Geburtstag der Bundesrepublik legt Willi Winkler eine schonungslose Betrachtung ihrer Frühgeschichte vor. Mitreißend und faktengesättigt beschreibt er, wie der westdeutsche Staat trotz all seiner Zerrissenheiten zum Erfolgsmodell wurde – und er zeigt, welchen Anteil vermeintlich oder tatsächlich geläuterte Nazis daran hatten. Eine Parabel über Schuld und Scham, über Bewältigung und Versöhnung, und zugleich eine zwingende Lektüre für alle, die dieses Land von Grund auf verstehen wollen.“
Ich war in jener Zeit Kind, Jugendliche. Einerseits begegnete mir beim Lesen unendlich viel Neues.Globke und ein paar andere, deren Geschichte war mir bekannt. Aber wie „flächendeckend“ der nahtlose Übergang der Eliten des „Dritten Reichs“ zu den Schalthebeln der Macht in der Bundesrepublik war – das hätte ich nie gedacht. Und dann die suspekte Rolle Adenauers, der nun gewiss kein Alt-Nazi war, sondern aktiver Widerständler – erstaunlich, dass das gut gegangen ist!
Aber auch wenn mir die Fakten fast alle unbekannt waren: Die Atmosphäre jener Jahre, die wurde mir bei der Lektüre präsent. Ich höre die Sätze wieder, die ich damals gehört und geglaubt hatte: „der Hitler war an sich nicht schlecht, wenn er nur nicht größenwahnsinnig geworden wäre“. Er hatte nämlich die Autobahnen erfunden, wohingegen das KZ eine Erfindung der Engländer in Südafrika gewesen sei. Ich spüre wieder die in Selbstmitleid getränkte und von jeder Selbstkritik freie Mentalität: Die Siegerjustiz und was die Besatzer alles verbrochen hätten. Ich erinnere meine Angst vor den „Marokkanern“, die als französische Soldaten in meinem Städchen stationiert waren und angeblich in ihrer Freizeit deutsche Frauen und Mädchen zu vergewaltigen pflegten. Übrigens, wenn ich es jetzt recht bedenke, eine bezeichnende Unterscheidung: über Soldaten, die aus Frankreich stammten, wurde dergleichen nicht kolportiert. Wohingegen die deutsche Wehrmacht immer „sauber“ geblieben sei. Naja… und dass meine erste harmlose Jazz-Platte (New Orleans Function mit Louis Armstrong) als „Negermusik“ bezeichnet wurde, wen wundert’s. Sollte einem aber doch wundern. Diese ziemlich komplette Weigerung, die eigene Geschichte, die eigenen Überzeugungen zu reflektieren, in Frage zu stellen… eben: die Unfähigkeit zu trauern…. womit wir wieder bei Mitscherlich wären.
Das ist jetzt ein bisschen ausführlicher geworden, als ich gedacht habe.
Nun aber zu meinem ganz aktuellen Buch und wie ich drauf gekommen bin:
Das Wochenendabonnement der Süddeutschen Zeitung wird von mir sorgfältig gelesen. Einschließlich der Todesanzeigen. Man verzeihe: aber die haben ziemlichen Unterhaltungswert. Außerdem ist die Befassung damit altersangemessen (ein Kollege von mir erzählte, er hätte die Beobachtung gemacht, dass sein Interesse schrittweise von Heirats- und dann Geburtstanzeigen zu Todesanzeigen gewechselt habe). Bei dieser Lektüre stieß ich auf ein Gedicht als Trauerspruch. Das hat mich angesprochen, was bei Gedichten ganz selten ist, und ich googelte nach dem mir völlig unbekannten Autor: Hans Sahl, Theater- und Literaturkritiker (mit Brecht und anderen Größen von damals gut bekannt), Schriftsteller, Übersetzer.1933 musste er – Jude und links – emigrieren. Er starb 1993 in Tübingen. Was mich natürlich noch mal neugierig machte. Aber natürlich weit mehr als diese Verbindung zu einer Stadt, mit dr sich für mich viel verbindet, sprach mich an. dass er – im Unterschied zu so vielen anderen linken Intellektuellen – den Bruch mit dem Stalinismus vollzogen hat. Was ihn zum zweifachen Heimatvertriebenen machte.
Und so lese ich jetzt:
Hans Sahl: Memoiren eines Moralisten. Das Exil im Exil (Luchterhand, 2008, 21,95€)
Genug geschrieben – jetzt wird weitergelesen!