Fast nichts beschäftigt mich im Augenblick so sehr wie die Spaltung unserer Gesellschaft. Die ist nicht ausgelöst durch Corona, aber sie wurde durch die Pandemie enorm verstärkt. Mir ist unklar, wer diese Spaltung aus Dummheit befördert und wer ganz bewusst Öl ins Feuer gießt. Auf beiden Seiten erlebe ich Diffamierung, Herabwürdigung: Wir, die Guten – Ihr die Bösen. Wir, die Informierten, Ihr, die Ahnungslosen. Wir, die Besitzer der Wahrheit – Ihr, die Verblendeten.
Weil ich „eigentlich“ von PolitikerInnen, Medienmenschen, WissenschaftlerInnen mehr halte als von VerschwörungstheoretikerInnen am anderen Ende des Spektrums, genau deshalb gehe ich mit diesen auch schärfer ins Gericht: Wie kann man nur so dumm sein und glauben, durch Beschimpfung der andern, durch ein radikales „wer nicht für uns/unsere Maßnahmen ist, der ist gegen uns“ würde irgendetwas zu gewinnen sein. Wieso kapiert man nicht, dass man dadurch die Menschen, mit denen man eigentlich reden könnte, in die Arme derer treibt, die an Dialog nun wirklich kein Interesse haben.
In diesem Moment, in dem ich oft über die Gefahren, die aus dieser Dialogverweigerung kommen (gerade von denen, denen ich mehr Verstand zugetraut habe) nachdenke – gerade in diesem Moment bringt der Deutschlandfunk ein „Kalenderblatt“ (eine Sendung immer kurz nach den Neun- Uhr-Nachrichten), in dem an einen Menschen erinnert wurde, von dem ich noch nie was gehört habe: Viktor Gollancz.
Diese 5-Minuten-Sendung machte mich für einen Moment glücklich und sie gibt mir für mehr als einen Moment Hoffnung:
Der Jude Viktor Gollancz besucht 1946 das zerstörte Deutschland und berichtet darüber: „Als ich Deutschland im Jahr 1946 besuchte, habe ich viele schreckliche und herzzerreißende Bilder gesehen. Nichts hat mich mehr betrübt als die Kinder und Jugendlichen, die ich in den Straßen herumwandern und um die Bahnhofsbunker herumsitzen sah.“ Die meisten britischen Zeitungen druckten seine Berichte: „doch ein Artikel wurde zurückgewiesen, weil er darin von Zuneigung zu den betroffenen Deutschen gesprochen hatte… ‚Ich habe überlegt, das Wort wegzulassen, aber dann habe ich mich daran erinnert, dass ich nicht nur einen wahrheitsgetreuen Bericht darüber schreiben wollte, was ich gesehen, sondern auch, was ich gefühlt habe…..„Ich werde die unsägliche Bösartigkeit der Nazis nie vergessen, aber wenn ich die aufgedunsenen Körper und die lebenden Skelette in den Krankenhäusern hier sehe, dann denke ich nicht an ‚die Deutschen‘, sondern an Männer und Frauen‘“.
Gegen die Ab-Neigung! Zu-Neigung!
Ja, die Ab-Neigung ist ein verständlicher Impuls. Sicher für Gollancz gegenüber dem brutalen Kriegsgegner, dem Mörder seiner Verwandten unausweichlich. Aber: Wenn er diesen Impuls überwinden konnte, warum sollten wir das nicht können, in einer ungleich weniger existentiellen Situation?
„Zunächst gegen den Willen der Regierung schickten britische Bürger Lebensmittelpakete nach Deutschland. Was ihm aus der britischen Besatzungszone Tausende Dankesbriefe einbrachte, sorgte in England für wütende Reaktionen. Sein Verlag wurde Ziel von Anschlägen, ebenso wie 1948, als er im israelischen Unabhängigkeitskrieg auch zu Spenden für die arabische Zivilbevölkerung aufrief. Der Vorwurf war immer der gleiche: Parteinahme für den Gegner oder Feind: ‚Ich war niemals mehr prodeutsch als ich profranzösisch, projüdisch, proarabisch oder sonstwas war. Ich hasse alles, was pro und anti ist. Ich bin nur eins: ich bin pro Menschheit.‘“
Gollancz bekam den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Wie schön wäre es, wenn möglichst viele Menschen darum wetteiferten, sich diesen Friedenspreis zu verdienen – im kleinen Rahmen, muss ja nicht gleich die offizielle Anerkennung sein. Anerkennung beim Blick in den Spiegel reicht. Den Friedenspreis verdienen indem wir dem Hass und der Sprachlosigkeit Dialogbereitschaft, Zuhören, eben Zu-Neigung entgegensetzen. Damit wir Sieger bleiben im Kampf gegen die eigenen Wut- und Vernichtungsimpulse. Ja, diese Impulse kann man gut verstehen – aber wer bleibt dann Sieger?