Vorbild USA – so war es mal
Als Jugendliche schwärmte ich von den USA. Wie so ziemlich alle in meinem Alter. Es war für uns „das Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ jenseits des bundesrepublikanischen Miefs. Wir identifizierten uns mit ziemlich allem was „amerikanisch“ war. Nicht unbedingt zur Freude unserer durchaus noch nationalsozialistisch sozialisierten Eltern, für die amerikanische Musik Negermusik war und die mit deutlichem Anführungszeichen in der Stimme von „unseren Befreiern“ sprachen.
Es war die Zeit, in der sich jedes Schlagersternchen einen amerikanisierten Namen zulegte (zum Beispiel Mary Roos, die mit bürgerlichem Namen Marianne Rosemarie Böhm hieß) und sich Mühe gab, mit „amerikanischem“ Akzent zu singen.
Ja, es gab den Vietnamkrieg, mal ganz abgesehen von den durch den CIA organisierten Umstürzen in Südamerika. Beispielsweise 1973 gegen den sozialistischen Präsidenten Allende von Chile zugunsten einer Militärdiktatur). Aber noch sehr lange hatte ich den Glauben, dass es in den USA ein breites und tief verankertes demokratisches Fundament gab.
Woodstock 1969. Ich habe mir gerade noch mal das Anti-Vietnamkrieg – Lied von Country Joe (https://www.youtube.com/watch?v=CXuSQcyuPU8) angehört und die Bilder dazu. Das hat mich ein bisschen weinen lassen. Und ich denke: es kann doch nicht sein, dass in diesem Land Menschen, die humane Werte vertreten, die rational denken und tolerant diskutieren zur vernachlässigbaren „silent minority“ geworden sind.
Allmähliches Ende einer Illusion
Auch wenn ich – mangels Alternative – in den Folgejahren noch bereit war, die USA als „westliche Führungsmacht“ zu akzeptieren, ich ging auf Abstand. Als es um ein Schuljahr im Ausland für meine Kinder ging, stellte ich die Bedingung: „Ihr dürft überall hin, aber nicht in die USA“.
Aber noch glaubte ich, dass christlicher Bible-Belt-Fundamentalismus, Reagans SDI-Star-Wars-Fantasien und schließlich Trumps Präsidentschaft Albträume sind, aus denen es ein Erwachen gibt und das „wirkliche“ Amerika sich durchsetzen würde.
Jetzt glaube ich, dass das eine Illusion ist. Mindestens für sehr lange Zeit.
Ich verfolge fassungslos die Berichte zum Untersuchungsausschuss in den USA zu den kriminellen Machenschaften Trumps nach seiner Wahlniederlage. Noch fassungsloser registriere ich, dass das, was ans Licht kommt, eben nicht zu einer Distanzierung der republikanischen Partei von ihrem Expräsidenten führt, dass die Reaktionen auf Seiten der Demokratischen Partei – gelinde gesagt – lau sind, dass kein Aufschrei der Zivilgesellschaft zu vernehmen ist. Dies alles lässt nur einen Schluss zu: die USA sind kein demokratisches Land mehr. Man scheint sich damit abgefunden zu haben, dass all das –Fake News, Betrügereien, Erpressungen, Bedrohungen von Andersdenkenden – offenbar als zur Normalität gehörig akzeptiert ist. .
„Die USA laufen Gefahr unter die Herrschaft von christlichen Taliban zu kommen“
Innerhalb von nicht einmal 24 Stunden wird höchstrichterlich festgestellt wird dass das Tragen von Waffen in der Öffentlichkeit ein Grundrecht sei („Laut dem neuen Urteil des obersten US-Gerichts verstieß die New Yorker Restriktion gegen die US-Verfassung. Dort heißt es in dem zweiten Zusatzartikel, dass der Staat ‚das Recht des Volkes, Waffen zu besitzen und zu tragen‘, nicht beeinträchtigen darf.“ Süddeutsche Zeitung 23.6.22). Andererseits kippt derselbe Supreme Court am 24.6.22 das Abtreibungsrecht nach fast 50 Jahren (Tagesschau). Mit seiner Mehrheit verkündet das Gericht großmäulig, dass das damalige Urteil (Roe gegen Wade“ vom 22. Januar 1973) „vom Tag seiner Entscheidung an ungeheuer falsch und auf Kollisionskurs mit der Verfassung“ gewesen sei.
Die USA sind ein gespaltenes Land – und weit und breit sehe ich keine Kräfte, die auch nur willens, geschweige denn fähig wären, zurückzukehren zu einem respektvollen Umgang miteinander, zu dem, was mit dem altmodischen aber treffenden Begriff „Anstand „bezeichnet wird
Der Spiegel titelt: „Abtreibung und Waffenrecht: Amerikas Wandel von Demokratie zu Dystopie – Amerika am Wendepunkt“
„Mit zwei schockierenden Urteilen kippte der Oberste Gerichtshof der USA diese Woche das seit einem halben Jahrhundert bestehende Grundrecht auf Abtreibung – und erfand zugleich ein ganz neues Grundrecht, das Recht aufs öffentliche Tragen von Schusswaffen . Der eine Beschluss entmündigt Frauen, der andere ermächtigt (meist) Männer, beide sind die Kulmination einer langen – und unterschätzten – Kampagne der Christlich-Konservativen.“
Wenn man dann noch bedenkt, dass drei der auf Lebenszeit ernannten konservativen Richter des Supreme Court in relativ jugendlichem Alter sind (Barrett ist 50, Gorsuch 54, Kavanaugh 57), so sollte man sich keine Illusionen machen, wie es weitergeht. Clarence Thomas (einer von den älteren Richter) stellte bereits das Recht auf Empfängnisverhütung und auf homosexuelle Sexualität infrage.
Der Spiegel -Artikel beschreibt unter anderem den Siegeszug der Evangelikalen und auch der konservativen Katholiken, die einerseits die Politik usurpierten und andererseits von der Politik instrumentalisiert werden.
Ein Kommentator im Forum schrieb: „Die USA laufen Gefahr unter die Herrschaft von christlichen Taliban zu kommen“. Naja, lässt sich ganz gut vereinen mit Steinzeitkapitalismus.
Wir müssen daraus Konsequenzen ziehen!
Ein anderer meinte:
„Es wird der Tag kommen, dass unsere Werte nicht mehr mit denen Amerikas übereinstimmen. Ein neu gewählter republikanischer Präsident, und der muss nicht mal Trump heißen, wird uns seine Werte, wirtschaftliche und militärische sowie energiepolitische entschieden entgegenhalten. Auch darauf sind wir nicht vorbereitet und geben uns wiederholt dem Irrtum hin, Amerika sei der Garant für Freiheit, Demokratie und Selbstbestimmung. Es geht gerade in die andere Richtung.“
Darauf kam die Antwort:
„Der Tag von dem Sie sprechen war gestern.“
So sehe ich das auch. Das heißt: wir EuropäerInnen müssen uns nicht nur von russischem Gas unabhängig machen, sondern politisch und ideologisch von den USA. Das wird die schwierigere Übung sein.
Ein bisschen traurig höre ich „American Pie“.
Schluss. Aus. Vorbei.
Nachwort: ich stöbere ein bisschen zu „American Pie“und finde eine Version die ein wenig Hoffnung macht: „The day democracy died“, anscheinend 2020 gegen die Wiederwahl Trumps. THE DAY DEMOCRACY DIED – by Founders Sing with Don McLean & Founding Fathers).