Mal wieder hängt alles mit allem zusammen!
Die verdrängte Psychoanalyse und was sie alles leisten könnte, wenn man sie nur ließe
Am 13.5. erschien in der TAZ ein Artikel von Tom David Uhlig: „Lehrstuhl vor dem Aus: Verdrängung der Psychoanalyse“. Der Untertitel kriegt flugs die Kurve zu Corona: „In Frankfurt ist einer der letzten psychoanalytischen Lehrstühle in Gefahr. Dabei könnte er helfen, die Corona-Protestbewegung zu verstehen.“
Die Lektüre des Artikels hat mich (selbst Psychoanalytikerin) keineswegs motiviert, meine Unterschrift unter eine online-Petition zum Erhalt des psychoanalytischen Lehrstuhls zu setzen. Vielmehr hat mich geärgert, in welch törichter Weise auf die „Konkurrenz“, nämlich die Verhaltenstherapie, eingedroschen wird, die – vom Zeitgeist mal abgesehen – für diese Entwicklung verantwortlich gemacht wird:
„Der Verhaltenstherapie ist es gelungen, mit ihrem Versprechen auf schnelle Symptomreduktion, vereinheitlichten Behandlungsplänen und kostengünstigeren Ausbildungen mehr Professuren zu besetzen, mehr Drittmittel einzuwerben und so die Psychoanalyse aus den Universitäten zu verdrängen. Sie verträgt sich besser mit dem Kapitalinteresse, den Ausfall von Arbeitskräften kostengünstig zu minimieren. Anstatt über Jahre hinweg Lebens- und Familiengeschichten mit unklarem Ausgang aufzuarbeiten, setzt sie an der Störung an, versucht sie sinngemäß zu reparieren.“
„Die Psychoanalyse“ als beklagenswertes Opfer des kapitalistischen Systems, rücksichtslos ausgebootet von einer konformistischen Therapieform! So viel Kritiklosigkeit gegenüber dem eigenen Verein war selten!
Stimmt schon: Ich weiß aus eigener leidvoller Erfahrung während meines Psychologiestudiums an der damaligen VT-Hochburg Tübingen um die grandiose Selbstüberschätzung der meisten DozentInnen bei gleichzeitiger intellektueller Anspruchslosigkeit. Andererseits erlebte ich in der analytischen Ausbildung auch nicht gerade wenig Engstirnigkeit, Dogmatismus und Klüngelwirtschaft.
Das war vor 40 Jahren. Inzwischen ist sicher – auf beiden Seiten – manches gleichgeblieben. Aber vieles hat sich auch verändert: Anders als dieser Artikel in der TAZ suggeriert, sind wir PraktikerInnen alles andere als „verfeindet“, sondern kooperieren mit- und lernen voneinander.
„Grundlagen kollektiven Verhaltens“ – hat der TAZ-Autor das überlesen?
Das war der Vorspann. Was mich aber noch mehr erbost als diese Schwarz-Weiß-Zeichnung von Verhaltenstherapie versus Psychoanalyse, ist die Vereinnahmung „der Psychoanalyse“ in Sonderheit des früheren Frankfurter Lehrstuhlinhabers Alexander Mitscherlich und dessen Frau Margarete: Sie könnten Erklärungsmodelle dafür liefern, welche Prozesse in der Psyche der QuerdenkerInnen ablaufen. Ich behaupte nicht, das sei keine wichtige und spannende Frage.
Uhl analysiert die Querdenker-Denke:
Ihr Verschwörungsglaube lässt sich psychoanalytisch als Umgang mit Angst interpretieren. Unaushaltbare Unsicherheiten in der Pandemie werden im Verschwörungsglauben aufgelöst, die Welt vereindeutigt und die Aggression gegen die vermeintlichen Verschwörer pathisch projiziert, sodass die Wut zur Notwehr verklärt werden kann. Die narzisstische Kränkung, der Gesellschaft mit ihren Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung wie auch der Krankheit ausgeliefert zu sein, wird so bewältigt durch die Errichtung eines fantastischen Größenselbst, das über alles Bescheid weiß.
Aber verehrter Autor Tom David Uhlig: wieso kaprizieren Sie sich auf diese Minderheit? Wieso nehmen Sie nicht die gesamtgesellschaftliche Reaktion auf Corona in den Blick? Von der es in einem der ganz seltenen kritischen Artikel der TAZ der letzten Monate heißt „Wer die aktuellen Maßnahmen kritisiert, gilt schnell als Coronaleugner. Nicht Gegenvorschläge verunsichern, sondern die Einseitigkeit der Debatte“ (vom 7.11.20 „Streitet mehr über Coronaregeln“). Ist die sehr weit verbreitete pauschalisierte Ausgrenzung und Diffamierung von Meinungen, in denen die Weisheit der ExpertInnen und Regierenden in Zweifel gezogen werden für Sie kein Thema? Die erst seit kurzem abflauende Neigung, sich gegenseitig zu übertreffen mit Forderungen nach „noch härtere Maßnahmen“ „noch schärfere Regeln“?
Für Sie ist es keine Frage, wie zu erklären ist, dass die aufmüpfige, angeblich linke und systemkritische TAZ mit Corona lammfromm, staatstragend wurde und abweichende Meinungen diskriminiert? So ganz anders, als es im Redaktionsstatut steht? Dort ist nämlich die Rede davon, man engagiere sich für eine kritische Öffentlichkeit, artikuliere besonders die Stimmen, die gegenüber den Mächtigen kein Gehör finden, wende sich gegen jede Form der Diskriminierung und verstehe Freiheit als Freiheit des Andersdenkenden…
Als im April von einigen MinisterpräsidentInnen die Lockdownmaßnahmen gelockert wurden, kritisierte die TAZ „Eine Mehrheit der Bevölkerung hat es für diese Öffnungen nie gegeben; nachgegeben hat die Politik vielmehr einer lautstarken Minderheit.“ Ist das Ihr Verständnis von Nichtdiskriminierung? In dem besagten Artikel lese ich entsprechend dem Prinzip „je härter, desto besser“: Wenn die Regierenden und ArbeitgeberInnen weiter so unvernünftig blieben, sollten die ArbeitnehmerInnen den totalen Lockdown einfach selbst organisieren, sich krankmelden oder Urlaub nehmen. Tja, was man sich in warmen Redaktionsstuben alles ausdenken kann! (Solange sie warm sind und der Hausmeister/Heizungsmonteur/die Belegschaft der Fernheizung nicht dem TAZ-Ratschlag folgen). Vermutlich lief das unter „Engagement für eine kritische Öffentlichkeit“.
„Die Unfähigkeit zu trauern“ von 1967. Wir lesen nach:
Tom David Uhlig wird als Mitherausgeber der Zeitschrift für psychoanalytische Sozialpsychologie vermutlich in seinem Bücherschrank ein Exemplar von Mitscherlichs „Die Unfähigkeit zu trauern“ (1967) haben. Schade, dass er es nicht herausgenommen und darin gelesen hat, bevor er mit dem Finger auf die bösen Querdenker zeigte, die analysiert gehören. Dann hätte er nämlich gemerkt, dass sich manches Zitat nicht nur auf sie, sondern vor allem auf unsere aktuelle gesellschaftliche Situation anwenden lässt. Wie es bei dem Untertitel „Grundlagen kollektiven Verhaltens“ erwartet werden darf.
Ich erlaube mir, das nachzuholen, was Tom David Uhlig versäumt hat und bedanke mich bei ihm für den Hinweis auf diese immer noch lohnende Lektüre.
In der Vorbemerkung schreiben Alexander und Margarete Mitscherlich zu der Errungenschaft „demokratischer Gedankenfreiheit“ in der Bundesrepublik, man fühle „sich jedoch zu der Frage gedrängt, wieviel Leidenschaft für die Demokratie sich zeigen würde, wenn die bundesrepublikanischen Geschäfte einmal entschieden schlechter gehen sollten… Mehrt oder mindert sich die Toleranz, abweichende Meinungen – auch solche, die uns ärgern – zu ertragen und zu achten? Ist Gedankenfreiheit für die Bürger unseres Landes zur unabdingbaren Forderung an ihre Gesellschaft geworden?“ (S. 7)
Es ging jetzt doch schnell, bis die Eingangsfrage nach der demokratischen Leidenschaft für die Gedankenfreiheit ziemlich eindeutig und ziemlich negativ beantwortet werden konnte. Wir erlebten keine Begeisterung für die Gedankenfreiheit, sondern die staatsbürgerliche Pflicht zum Konsens: „Die Reihen fest geschlossen“.
1967 analysierten die Mitscherlichs die Mechanismen der Idealisierung des/der „Führer(s)“ bzw. der Unterwerfung unter diese einerseits und der Entladung der Aggression gegenüber Nonkonformen. Ausdrücklich betonen sie, dass diese Mechanismen keineswegs nur für den Nationalsozialismus gelten, sondern ubiquitär auftreten:
„Für die Massenglieder ist der so idealisierte Führer das sichtbar existierende eigene Ich-Ideal… Gleichzeitig fühlen sich die Menschen brüderlich vereinigt, die bisher in rivalisierenden Gruppen und Klassen gegenüberstanden. Sie können sich plötzlich miteinander identifiziert erleben, weil sie ein gemeinsames Ideal mit so großer Leidenschaft besetzt halten; sie sind alle mit dem Führer identifiziert.
Die Rivalität innerhalb einer so geeinten Gesellschaft ist nun zwar stark gemindert, aber die bisher in ihr gebundene Aggression macht sich bald wieder bemerkbar, indem nun regelhaft nach ‚außen‘ auf eine Fremdgruppe, sei es ein Volk oder eine Minorität, aggressiv projiziert wird. Es ist geradezu ein signifikanter Zug an hochgestimmten Massenbewegungen, daß Aggression aus ihrem Binnenraum verschwindet und in der Verfolgung von Sündenböcken wieder auftaucht. Ein jeder wird automatisch als Feind empfunden, der diese Idealbildung und diese feindselige Haltung festgelegten Aggressionsobjekten gegenüber nicht mitmacht. Das hat nicht nur die Nazibewegung bewiesen, das ist weiterhin gültig geblieben… Was die deutsche Szene betrifft, so leistet die hier übliche Gehorsamskultur solcher Verdrehung Vorschub. Die Durchtränkung des Zwanges mit Lust, seine Libidinisierung, gehört zum sado-masochistischen Aspekt der Gehorsamskultur. Die akute Verliebtheit in den Führer steigert die masochistische Lustbereitschaft ebenso wie die Neigung zum aggressiven Ausagieren gegen die Feinde des Führers.“ (S.74.f)
Sie fordern – als Notwendigkeit des Überlebens der „menschliche[n] Spezies“ „die Schulung des kritischen Verstandes bei allen [hervorgehoben durch A +M.M.], nicht in der Konservierung der Einschüchterungsmethoden des Denkens, mit denen man jahrtausendelang das Individuum domestizierte.“ [S.171]
Im letzten Kapitel „Konsequenzen – bei offenem Ausgang der Konflikte“ wird an einer Stelle etwas beschrieben, was mir aus der letzten Zeit recht bekannt vorkommt:
„… Infolgedessen berufen sich Spezialisten im Kampf um Herrschaftspositionen auf ihr Wissen wie einst die autokratischen Herrscher auf das Gottesgnadentum ihrer Privilegien.“ [S.354]
Eine der Konsequenzen, die in diesem Buch gefordert werden:
„‘Reife‘ im Feld der Politik heißt also, daß ambivalente Gefühle gegenüber der Autorität als etwas Normales verstanden werden und daß Autorität es ertragen lernt, sich von einer mehr oder minder großen Zahl der Mitglieder der Gesellschaft mehr oder minder vollkommen abgelehnt zu wissen. Darin drückt sich die Überwindung der infantilen Einstellung zu den Vorbildern aus. Und natürlich auch die Überwindung der zum Scheitern verurteilten Identifikation mit dem unfehlbaren Ideal.“ [S.347f.]
Mal schauen, wie lernfähig wir sind!
18. Mai 2021
Liebe Ursula Neumann,
gestern suchte ich im Netz nach dem genauen Wortlaut des Gedichts von Hans Sahl, dass ich gern für Trauerreden nehme. Nachher möchte ich damit einer Kollegin, die völlig unerwartet gerade ihren Mann verloren hat, mein Beileid ausdrücken.
Ich las soeben Ihren letzten Beitrag; fand ihn mich sehr berührend und interessant in seiner Denkrichtung. Ich glaube, ich muss mich hier einlesen!
Seien Sie herzlich gegrüßt
IvR