Vorbemerkung: Vor einigen Wochen habe ich geschrieben „Shame on you, FDP“. Damals ging es um Thüringen und einen gewissen Herrn Kemmerich – erinnert sich noch jemand? Bei aller Empörung, da hat das Schreiben noch irgendwie Spaß gemacht. Und ganz ehrlich, als gerüchtweise verlautete, eventuell müsse die MInisterpräsidentenwahl am 4.3. verschoben werden, weil bei einem CDU-Abgeordneten, der mit zu den Unterhändlern gehörte, Corona-Verdacht bestand, dachte ich: „Das wär’s jetzt… Ein Artikelchen ‚CDU, FDP, Grüne und Linke gemeinsam in Quarantäne!‘ Am besten im Plenarsaal.“ (Die AfD hatte wohl zu diesem Zeitpunkt keinen Kontakt zu diesem Abgeordneten….). Um die folgenden Zeilen jedoch habe ich mich gedrückt. Aber sie müssen sein.
Ich will nicht hinschauen. Wenn im Jahre 9 des Syrienkrieges (Zur Erinnerung: der zweite Weltkrieg dauerte sechs Jahre) in den Nachrichten Meldungen über die Situation in Idlib, über die Situation auf den griechischen Inseln, über die Reaktionen der EU kommen, dann schalte ich oft aus. Zeitungsartikel überblättere ich. Nicht, weil es mich nichts angeht, sondern genau weil es mich was angeht – und ich nichts machen kann.
Ich ertrage das nicht zu sehen, wie mein Europa seit 2015, seit der ersten „Flüchtlingskrise“ die Hände in den Schoß gelegt hat. Es war doch so voraussehbar! Und wenn schon nicht um der Menschen in Syrien willen, so aus reinem Eigennutz hätte die Politik (nein, hätten wir!…. aber wie denn?) alle Hebel in Bewegung setzen müssen, um in Syrien zum Frieden zu kommen. Kann sein, dass das nicht gelungen wäre. Das ist etwas anderes. Aber es ist eine Schande, es ist unverzeihlich, dass so gut wie nichts versucht wurde. Kopf in den Sand gesteckt… Heiliger St. Florian…
Die Türkei – sie hat fast genauso viel Einwohner wie Deutschland und nahm vier Millionen Flüchtlinge auf. Der Libanon – by the way auch nicht gerade als ein wohlhabendes Land bekannt – hat bei 6,2 Millionen Einwohnern über eine Million Flüchtlinge. Deutschland, das wirtschaftlich ganz anders dasteht, nahm 1,5 Millionen Menschen auf… Immerhin – denn z.B. in Ungarn gilt seit 2018 die Bestimmung, dass pro Werktag genau zwei Personen Asyl beantragen dürfen. (https://www.sueddeutsche.de/politik/fluechtlinge-in-ungarn-ein-land-schottet-sich-ab-1.4014923).
Das Flüchtlingsabkommen von 2016 mit der Türkei, das meiner Meinung nach nicht sonderlich fair für die Türkei war (aber zugegeben, davon verstehe ich zu wenig) – konnte im Ernst irgendwer glauben, dass uns das auf Dauer „schützt“? (Das Wort „schützen“ in diesem Zusammenhang finde ich unerträglich. Ist es denn dasselbe, ob die Invasion durch eine feindliche Armee, durch kriminelle Banden droht oder ob Familien, vor Bomben, Beschießung, Hunger fliehen, sich unter Lebensgefahr auf den Weg gemacht haben??) Ich kann Erdogan weiß Gott nicht leiden. Aber er „entlarvt mit seinem Vorgehen die Scheinheiligkeit der europäischen Flüchtlingspolitik.“ (Reutlinger Generalanzeiger vom 7.3.20) Das geschieht uns nur recht… allerdings außer unserer Schande (die kaum jemand registriert) hat das für uns keinerlei Folgen.
Die absolute Fehlkonstruktion des Dublin-Abkommens (1990) hat wohl in der Folge dazu geführt, dass jetzt zum Beispiel Griechenland (bzw. ein paar griechische Inselchen) die Drecksarbeit leisten müssen. Wenn im Lager Moria auf Lesbos (Einwohnerzahl der gesamten Insel 86 000) statt der vorgesehenen 2000 Leuten im September 2019 10000 Leute „leben“ und aktuell 19000, dann ist das nicht nur für diese katastrophal, sondern auch die gutwilligsten Einheimischen kommen an ihre Grenzen. Und leider sind wir Menschen so gestrickt, dass wir unsere Wut gegen die richten, die wir sehen, die greifbar für uns sind – und nicht gegen die Verantwortlichen. Die Verantwortlichen – das sind die PolitikerInnen in Brüssel, in Athen, in Berlin, in Paris, in Warschau, in Budapest… Diese nennen Griechenland „Schild Europas“ (von der Leyen laut Süddeutscher Zeitung vom 7.3.20), was sicher jeden Griechen wahnsinnig stolz macht.
Ja, ich verstehe die Sorge, durch eine neue „Flüchtlingswelle“ würden „die Rechten“ wieder Auftrieb bekommen. Immerhin: vor 2015 landete die AfD regelmäßig unter 5%. Dann, wenige Monate später lag sie bei 10%. „AfD-Vize Gauland nennt Flüchtlingskrise ein ‚Geschenk‘“ titelte das Handelsblatt am 12.12.2015. Wobei zu den Schenkenden auch Leute wie Horst Seehofer gehörten, der wie viele andere „Konservative“ meinte, durch eigenes Rechtsrücken würden sie der AfD das Wasser abgraben. Stattdessen schüttete man reichlich Wasser auf deren Mühlen. Die gemeine Lebenserfahrung hätte lehren müssen, dass man im Zweifelsfall lieber gleich zum Schmied geht und nicht zum Schmiedchen.
Horst Seehofer (und sein Nachfolger Söder) scheinen das inzwischen partiell halbwegs kapiert zu haben. Ob aus höherer Einsicht oder wg. Eigeninteressen – egal.
Aber sonst? Wo sind die aufrechten Demokraten? Wo sind die Vertreter der christlichen, humanistischen, europäischen Werte, die jetzt, wo es drauf ankommt (und nicht, wo es nichts kostet!), klare Worte sprechen, eindeutig handeln? „Die Europäische Union ist eine Wertegemeinschaft“ – wie oft hört man das! (Wer’s schwarz auf weiß haben will, kann im Wikipedia-Artikel nachlesen: https://de.wikipedia.org/wiki/Grundwerte_der_Europ%C3%A4ischen_Union) Wenn es welche gibt, die das ernst nehmen, wie jene deutschen Bürgermeister, die sich bereiterklärten in ihren Städten unbegleitete Kinder aus den griechischen Flüchtlingslagern aufzunehmen – dann gibt es ach so „vernünftige“ Gründe, dass nicht einfach gesagt wird „O.K. macht das“. Könnte ja einen „Dammbruch“ zur Folge haben.
Und inzwischen reisen Neonazi-Gruppen und wenigstens ein AfD-Politiker nach Griechenland, Angriffe auf Helfer sind dort an der Tagesordnung (Angriffe auf Flüchtlinge gibt es schon länger), das Gebäude einer Hilfsorganisation wurde niedergebrannt.
Europa – also wir! – feilschen weiter, spielen auf Zeit, ducken uns weg, hoffen dass der Kelch an uns vorübergeht.
Nein, ich weiß auch keine Lösung. Ja, ich anerkenne, dass das alles nicht einfach zu lösen ist.
Aber eines weiß ich: Weil man sich darum gedrückt hat, ein – vergleichsweise – kleines Problem zu lösen, hat man sich ein größeres eingehandelt. So ist das immer. Bloß: ich kann nicht schadenfroh sagen „das kommt von das“: denn dieses Problem hat Zehntausende, hunderttausende Namen, Zehntausende, hunderttausende Gesichter.
Ich schäme mich, Europäerin zu sein.
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P.S. Bei aller Hilflosigkeit: wenigstens zwei Spendenkonten, die mir seriös erscheinen:
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