Heute schreiben wir den 22.2.23. Das Datum ist nicht ganz so „rund“ und „bemerkenswert“ wie das vor 365 Tagen: Am 22.2.22 heirateten sicher so einige. Auch für die Neumanns war dieser Tag in gewisser Weise besonders. Es war das Datum des letzten „Ausflugs“ meiner Mutter und gleichzeitig das letzte Mal, dass sie eine längere Strecke mit dem Auto fuhr. Das Ziel: Das ALS-Zentrum in Ulm.
Ein befreundeter Neurologe von der Charité hatte meiner Mutter kurz der Diagnose empfohlen, sich dorthin zu wenden. Und so fuhren meine Mutter und ich an jenem nasskalten Spätwintermorgen in Richtung Osten. Ich noch mit der Hoffnung, es würde sich alles als Fehlinterpretation eines völlig harmlosen Befunds herausstellen; meine Mutter in der Absicht, sich möglichst gut über die wenigen Behandlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten zu informieren. Am Vorabend war meine Mutter zu uns nach Stuttgart angereist; ausgehen wollte sie nicht und so gab es bei uns einen gemütlichen Abend mit jeder Menge selbstgemachtem Flammkuchen.
Ulm war in verschiedener Hinsicht eine Überraschung. Zunächst einmal: Ich durfte meine Mutter begleiten – das war zu der Zeit in medizinischen Einrichtungen alles andere als selbstverständlich. Dann: Es wurde weder ein Impfzertifikat noch ein negativer Test verlangt. Darüber hinaus bekamen wir beide eine kostenlose neue FF2-Maske aufs Haus. Überraschend war auch, wie viel Zeit sich erst die Ärztin und anschließend noch eine Krankenschwester für uns nahmen. Wenn ich mich recht entsinne, waren wir insgesamt anderthalb Stunden im Sprechzimmer. Mich hatte die Ärztin recht schnell auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt: Es war ALS. Ich schöpfte noch etwas Hoffnung, weil sich die Erkrankung offensichtlich in einem frühen Stadium befand. Bezüglich des Verlaufs war die Ärztin verhalten optimistisch – im Rahmen der Möglichkeiten. Rückblickend muss man sagen, dass sie mit ihrem zaghaften Optimismus falsch lag, aber mir hat er damals doch gutgetan. Ob meine Mutter nicht an einer medizinischen Studie teilnehmen wolle, fragte die Ärztin und als meine Mutter entgegnete, sie würde sich freuen, wenn sie mit ihrer Erkrankung wenigstens der Wissenschaft einen Dienst erweisen könnte, leitete sie zur zuständigen Krankenschwester über. Es stellte sich heraus, dass meine Mutter zu alt war. Nur für eine einzige Studie kam sie altersmäßig in Betracht. Zunächst einmal klingt dies natürlich nicht sehr erbaulich. Aber es bedeutet im Umkehrschluss. Meine Mutter hat diese Erkrankung zu einem extrem späten Zeitpunkt bekommen. Die meisten ereilt diese Krankheit in ihren 50ern, manche in ihren 60ern und einige müssen bereits in ihren 30ern oder 40ern dieser Krankheit ins Angesicht blicken. Meine Mutter hat sich immer wieder bewusst gemacht, dass sie so gesehen Glück im Unglück gehabt hat. Es hätte viel früher vorbei sein können. Und auch bei mir wird der Gedanke „viel zu früh“ immer wieder schnell durch ein „zum Glück nicht noch viel früher!“ abgelöst.
Wir fuhren zurück nach Stuttgart. Meine Mutter hatte zumindest etwas Blut für die Forschung in Ulm gelassen. Eine Teilnahme an dieser einen Studie machte wenig Sinn, da sie regelmäßig vor Ort hätte erscheinen müssen und das wollte sie sich dann doch nicht zumuten. Man empfahl ihr einen stationären Aufenthalt um ein die Atmung unterstützendes Gerät einstellen zu können. Ein Ansinnen, das meine Mutter nachhaltig ablehnte. Von ihren wenigen Tagen wollte sie nicht noch einige im Krankenhaus verbringen und tatsächlich hatte sie auch hier den richtigen Riecher gehabt: Ihre Atmung funktionierte „für den Hausgebrauch“ bis zum letzten Tag halbwegs akzeptabel.
In Stuttgart gab es dann noch einmal Kaffee und Kuchen. Dann setzte sich mein Mutter hinters Steuer ihres silbernen Mercedes und donnerte ein letztes Mal über A8 und A5 nach Oberkirch.