David Neumann: zweiter Augenzeugenbericht von der Stuttgarter Demonstration vom 16.5.20 „Wir für das Grundgesetz – Querdenken 711“

 

Vor zwei Wochen habe ich die Wirkweise der einseitigen Berichterstattung über die Demonstrationen durch die Medien beschrieben: Wie eine selbsterfüllende Prophezeiung verschärft sich der Ton der nicht erhörten Demonstranten und radikalisiert sich die Gruppe der Verbliebenen durch das Wegbleiben der Gemäßigten, die nicht in einen Topf geworfen werden wollen mit den sich zunächst deutlich in der Minderheit befindenden Extremen.

Während der letzten zwei Wochen konnte ich an mir selbst feststellen, dass auch ich trotz der konkreten Benennung des Problems nicht gänzlich gefeit davor bin, diesen Abläufen zu erliegen. Da gibt es auf der einen Seite eine Stimme in mir, die radikaler wird, die immer weniger die vorsichtige Meinung vertritt „die Gefahr wird überschätzt“, sondern zu „da ist gar keine Gefahr“ tendiert und die ich immer wieder rational einbremsen muss. Auf der anderen Seite gibt es einen Teil in mir, der sich scheut auf die nächste Stuttgarter Demo zu gehen, weil ja „doch ein Fünkchen Wahrheit“ an der Berichterstattung dran ist und ich nicht gemeinsame Sache mit skurrilen und gefährlichen Leuten machen will.

Ich war am Samstag, den 9.5. auf dem Cannstatter Wasen gewesen und ich war es auch am Samstag, den 16.5. Es war beide Male schon etwas anders, als am 6.5. auf dem Stuttgarter Marktplatz. Dort war es „heimeliger“ und auch „normaler“. Es gab weniger „merkwürdige“ Gestalten, was ich vor allem damit erkläre, dass letztere eher von weither anreisen und dies eher an einem Samstag als an einem Mittwoch tun. Die Menge ist bunt gemischt: Familien mit Kindern, die aussehen als würden sie auf dem Weg zu einem Picknick im Park sein. Lans mit ihrem „Chick“, die ich eher in einer Shisha-Bar vermutet hätte. Ältere Damen und Herren, die heute wohl eigentlich beim Schafkopf-Spielen wären. Durchtrainierte Kerle, die ich in coronafreien Zeiten im Fitnessstudio um ihre Trainingsdisziplin bewundert hätte. Es gab Menschen auf christlicher Mission, die auf Plakaten von der Erlösung durch JC sprachen. Es liefen ein paar Menschen rum, die auf Organhandel in Schwarzafrika aufmerksam machen wollten. Im Gegensatz zu meinen ersten beiden Demos liefen diesmal, wie bei allen größeren Freiluftveranstaltungen, auch Pfandsammler*innen mit großen Tüten rum und hoben leere Getränkeflaschen auf. Was ich jetzt gemacht habe, ist natürlich nicht korrekt:

Ich habe vier Beispiele für den „Mainstream“ gegeben und drei für „Randgruppen“. Das Verhältnis ist natürlich aber ein völlig anderes. Letztere sind in meiner Aufzählung völlig überrepräsentiert, eben weil sie aufgrund ihrer geringen Anzahl besonders auffallen. Korrekt wäre vermutlich nicht 4:3, sondern 19:1. Oder 30:1… Vielleicht sollte ich also doch mit unseren Medien ein bisschen weniger hart ins Gericht gehen, wenn ich ihnen eine verzerrte Berichterstattung vornehme…An den Zugängen zum Demonstrationsgelände wurden Kristallsteine verteilt. Augenzwinkernd wurde so vom Veranstalter Bezug genommen auf die Berichterstattung über „die vielen Esoteriker“. Ein paar Teilnehmer*innen liefen mit selbst gebastelten Aluhüten durch die Gegend. Ganz offensichtlich waren das die „Verschwörungstheoretiker“. Bei dem Typen mit Hut-Bürger-Deutschland-Mütze war ich mir schon weniger sicher, ob es sich hier um eine Verballhornung handelte oder ob hier tatsächlich ein Pegida-Anhänger an mir vorbei lief. Bei der Dame hinter mir im schwarz-weiß-roten Rock und selbstgehäkelten schwarz-weiß-roten Mundschutz war ich mir leider sicher, dass hier tatsächlich jemand in meiner Nähe war, dessen Gesinnung nichts auf dieser Veranstaltung zu suchen hatte. Schließlich geht es hier um unsere in der Verfassung verbürgten Grundrechte. Dabei sah sie von Rock und Maske abgesehen ganz normal und freundlich aus. Und wie ich aus dem Augenwinkel beobachten konnte, klatsche sie auch an vielen Stellen, an denen sie eigentlich nicht hätte klatschen dürfen, wenn sie schwarz-weiß-rot wirklich ernst meinen würde. Es war verwirrend. Ich ärgere mich rückwirkend, dass ich nicht den Mut hatte, die drei Schritte zu ihr zu gehen um mit ihr ins Gespräch zu kommen.

Ich stresse diesen Punkt hier so, weil ich ganz bewusst nicht den Eindruck erwecken will, hier wäre alles Friedefreudeeierkuchen. Auch bei den letzten beiden Redner – so viel sei hier schon erwähnt – ist mitunter deutliche Kritik mehr als angebracht. Es ist ähnlich wie bei Corona selber: Eine gewisse Problematik ist durchaus gegeben, aber sie wird durch eine einseitige Fokussierung bei Weitem überzeichnet und führt zu Überreaktionen. Und genau wie bei Covid-19 müssen wir auch hier immer den Vergleich mit ähnlich gelagerten Fällen machen: Wie gefährlich ist eigentlich Grippe? Wie hoch ist die Sterblichkeit bei Windpocken? Was für Leute rennen auf Fridays for Future-Demos rum oder was wurde alles bei Stuttgart 21-Demos auf der Bühne geredet? Und damit sind wir auf der Bühne!

Es ist wirklich beeindruckend, was die Veranstalter alles auf die Beine stellen: Exzellente Sound-Anlage, professionelle freiwillige Ordner, eine Gebärdensprache-Dolmetscherin, Video-Schalte zu anderen Demos in Darmstadt und Ulm (was allerdings nicht ganz so gut glückte). Und dieses mal auch einen Moderater in Form des aus Köln angereisten „Nana Lifestyler“, einem rheinischen Schwarz-Afrikaner, der sehr sympathisch „durchs Programm“ führte. Ganz offensichtlich trug man damit der Kritik der Medien Rechnung, dass der führende Kopf hinter dem Ganzen, Michael Ballweg, etwas hölzern rüber kommt (wobei ich das für Jammern auf hohem Niveau halte). Letzterer eröffnete die Veranstaltung, wie die letzten Male auch, indem er die Auflagen der Stadt Stuttgart vorlas. Hier hatte sich seit dem letzten Mal einiges getan. Nachdem sich Herrn Kretschmanns Befürchtung, die Veranstaltung könnte von Rechtsextremen unterwandert werden, nicht bewahrheitet hatte, war dieser umgeschwenkt auf die Befürchtung, die Veranstaltung könne zum neuen Corona-Hotspot werden. Der Sicherheitsabstand musste also von 1,5 auf 2 Meter vergrößert werden, die Ordner mussten Mundschutz tragen und: die Demonstration war auf maximal 5.000 Teilnehmer*innen beschränkt worden. Da schon letzte Woche mehr als 10.000 Menschen gekommen waren, war klar was dann auch tatsächlich passierte: Diejenigen, die nicht mehr auf den Wasen gelassen wurden, verfolgten die Demonstration von der ihnen für „Spontanversammlung“ zugewiesene Mercedesstraße aus – über 1.000 Menschen dicht an dicht gedrängt, obwohl auf dem Wasen-Gelände noch massenhaft Platz gewesen wäre.

Was mir positiv auffällt: Trotz solcher – ich will mal sagen – Provokationen, blieb Herr Ballweg zum einen sachlich – in dem er beispielsweise die Stadt aufforderte, anhand der Daten des Gesundheitsamtes nachzuvollziehen, was denn dran sei an der Sorge von Herrn Kretschmann mit dem neuen Corona-Hotspot. Zum anderen nutzte er geschickt Ironie, indem er beispielsweise die Journalisten vor der Bühne beiläufig darauf aufmerksam machte, dass sie (im Gegensatz zu den Demonstrant*innen), den Zweimeterabstand nicht einhielten.

Einigermaßen bestürzt war ich, als Herr Ballweg darüber informierte, dass in der Nacht zuvor auf das Technikteam bzw. dessen Ausrüstung ein Anschlag verübt worden sei. Der Schaden beliefe sich auf ca.200.000 Euro. Verletzt worden sei zum Glück niemand. Die Sorge, die Demonstrationen würden gewalttätig werden, hatte sich also bewahrheitet. Nur anders als angenommen…

Nächster Programmpunkt war eine übertragene, aufgezeichnete Ansprache von Wolfgang Wodarg. Interessant für mich als Verfechter einer möglichst hohen und lückenlosen Testung war die These, dass genau die Tests am Anfang zu der Panik geführt hatten: Ansonsten wären – wie bei einem anderen schweren Grippewinter – der ein oder andere schwere Fall aufgetreten, teilweise mit tödlichem Verlauf und niemand hätte sich – genau wie in den Jahren zuvor – großartig drum geschert. Interessant auch der Hinweis, dass sich viele aktive Wissenschaftler unterstützend an ihn wendeten, jedoch anonym bleiben wollten, da sie Angst um ihrer direkt oder indirekt staatlich geförderten Forschungsprojekte hätten.

Ich hatte in meinem letzten Bericht schon geschrieben: Ich hab es eigentlich nicht so mit Gedichten und sängerischen Einlagen auf Demos. Aber das Gedicht „Ode an meine Stadt“ hat mich wirklich zu Tränen gerührt und das Lied „Helden unserer Zeit“ der mir bis dato unbekannten Stuttgart Band Sonni Fäsh war wirklich gut. Am meisten Eindruck hinterlassen hat der Leadsänger allerdings mit der Aussage: „Ich sehe hier total viele Fahnen: Schwedische, Spanische, Deutsche… und auch ganz viele Pace-Flaggen… die mag ich am liebsten. Ich habe allerdings auch vorhin eine schwarz-weiß-rote Fahne gesehen. Ich persönlich finde, dass die hier nichts verloren hat, weil sie etwas vertritt, wofür wir hier definitiv nicht stehen.“

Dann folgte der intellektuelle Höhepunkt: Klug, sachlich, unterstützt mit Fallbeispielen, eloquent und alles andere als reißerisch, beschrieben zwei Erzieherinnen die Auswirkungen der aktuelle Situation auf Kindern und Jugendlichen und warnten vor den kurz- und langfristigen Gefahren des Lockdowns und der Schließung von Kindergärten und Schulen. Angeblich ist ihre Petition bei Openpetition.com aufrufbar – alleine, ich finde sie nicht.

Auf den Höhepunkt folgte allerdings der Tiefpunkt.

Erster Schritt: Die Rede eines gewissen Milorad Kristic. Muss man nicht kennen. Was man im Internet zu ihm findet, sieht einigermaßen skurril aus. Nicht, dass dieserTyp nicht auch das eine oder andere gesagt hätte, was isoliert für sich betrachtet meine Zustimmung erhalten hätte. Seine Rede war überschrieben mit „Warum haben Fakten keine Bedeutung mehr“. Mir ist der Bezug zwischen Titel und Inhalt allerdings nicht klar geworden. Spätestens nachdem er sinngemäß meinte, dass wir die Vergangenheit nicht vergessen dürfen, dass wir uns aber nicht ewig für sie schämen müssen dürften, ging ich in innere Opposition. So eine Aussage ist nicht rechts-extrem; man hört sie ja durchaus auch von CDU-Politikern. Aber weder spiegelt sie meine Meinung wider, noch erkenne ich den Bezug du Corona.

Wirklich problematisch fand ich dann den letzten Beitrag. Denn hier kommt nun tatsächlich wirklich zusammen, was viele Medien kritisieren: Eine sorglose Vermischung zwischen Esoterik, Verschwörungstheorien, Denunziation der Presse und vor allem Rechtsextremismus. Und das Beispiel zeigt, wie komplex und diffizil die Thematik ist.Was ist passiert: Letzten Samstag nahm ein gewisser Stephan Bergmann in deinem roten T-shirt gemeinsam mit ein paar Mitstreitern an der Demonstration teil. Herr Bergmann hat einen Verein für indianische Lebensweisen und einen Verein namens Peace Crowd gegründet und eine „Motherdrum“ erfunden – was immer das sein mag. Er vertritt die Meinung, dass wir alle ein Herz haben und arbeitet seit Jahren mehr oder weniger erfolgreich daran „die Spaltung der Menschen und die Spaltung im Menschen zu heilen“. So weit, so harmlos.

Ich kann mir wirklich sehr gut vorstellen, dass Herr Bergmann beste Absichten verfolgte und charakterlich ein feiner, wenn auch verschrobener Mensch ist. Aber letzte Woche kam er auf einmal zwischen die Fronten – und behauptete sich vermeintlich prima. Zufälligerweise trafen direkt vor seiner indianischen Tanzgruppe zwei Männer aufeinander. Herr Walden von Spiegel-TV und Herr Nerling, seines Zeichens rechtsextremer und antisemitischer Videoblogger. Die beiden lieferten sich einen Schlagabtausch, den das Kamerateam von Herr Nerling filmte. Schließlich fragte Herr Walden den Mann im roten T-Shirt, ob er denn kein Problem damit habe, dass hier ein Holocaust-Leugner Interviews führe. Darauf entgegnete dieser sinngemäß, er glaube, dass wir alle ein Herz hätten und dass es darauf ankäme, dass wir jetzt alle zusammen fänden und dass wir das Denken „rechts“ und „links“ überwinden müssten. Tja. Diplomatisch könnte man sagen. Und doch gibt es Themen, wo man sich „trotz Corona“ klar positionieren muss. Man kann nicht fröhlich indianische Tänzchen für unsere Grundrechte tanzen und gleichzeitig sagen: „Den Holocaust blenden wir jetzt mal aus“. Das wirklich problematische ist aber in meinen Augen, dass der Mann mit dem roten T-Shirt geschickt von Herrn Nerling instrumentalisiert wurde: Das Ganze wird in dem von Herrn Nerling produzierten Video so dargestellt als habe Herr Bergmann, der indianische Mann im roten T-Shirt alleine den Spiegel vorgeführt. Und die Kommentare unter dem Video greifen dies auf, feiern den Mann im roten T-shirt und Herrn Nerling gleich mit und dreschen auf die links-versiffte, gleichgeschaltete Lügenpresse ein.

Indem nun das Organisationsteam wiederum Herr Bergmann die Bühne gegeben hat, seine Theorien vom Herz und der Überwindung der Spaltung etc. etc. zu verkünden, hat sich die Demonstration selber instrumentalisieren lassen, denn der Eindruck bleibt hängen: Der Nerling ist der Gute und der Walden, samt Spiegel-TV ist der Böse. Und so bleibt ein schaler Beigeschmack nach dieser zunächst so positiv verlaufenen Demonstration. Die Veranstalter haben sich zu Beginn klar von rechtsextremen Positionen abgegrenzt; doch muss man Worten auch Taten folgen lassen. Waren sie einfach nur naiv und angesichts der vielen Themen, die gerade auf sie einprasseln schlicht überfordert und haben den Zusammenhang und die Gefahr nicht gesehen? Haben sie es billigend in Kauf genommen, in der Hoffnung soein paar Unterstützer mehr zu erlangen? Und was heißt das für mich als Mit-Demonstrant? Soviel wage ich zu sagen: Hätte der Spiegel von Anfang an fair und objektiv berichtet, wäre er nicht zum allgemeinen Buhmann geworden und hätte dadurch indirekt verhindert, dass eine Demonstration, die eigentlich die Verteidigung unseres Grundgesetzes zum Ziel hat, von verfassungsfeindlichen Menschen missbraucht undbeeinflusst wird.

Und damit wären wir wieder beim Anfang und meiner Aussage zur selbsterfüllenden Prophezeiung. Als ich nach der Demonstration durch den Schlossgarten nach Hause radelte, bot sich mir ein Bild, wie ich es auch im Mai 2019 bei bestem Wetter hätte erleben können: Überall spazierten Menschen, picknickten, spielten Beachvolleyball oder Tischtennis. Auf der Freitreppe vor der Oper drängten sich die Menschen in Gruppen und genossen das Wochenende in vollen Zügen. Und niemand hinderte sie daran. Keine Polizeikontrollen, keine „besorgten Bürger“, die ihre Mitmenschen zur Einhaltung des „Sicherheitsabstands“ ermahnen. Genauso wichtig wie festzustellen, was passiert (und zu überlegen warum dies passiert), ist es wichtig, aufmerksam zu verfolgen, was nicht geschieht. Anfang April hatte ich zu meiner Mutter gesagt: Es wird spannend sein, zu sehen, wie die Politik versuchen wird, ohne Gesichtsverlust aus dieser Nummer rauszukomme. Dies könnte nun ihr Versuch sein: Offiziell weiter den harten Hund spielen (scharfe Auflagen für Demos, Maskenpflicht etc.), aber praktisch im konkreten Fall immer weniger Kontrollen und Sanktionen.Und wenn wir alle clever sind und sich die Zahlen weiter so entwickeln wie aktuell, werden wir in zwei Wochen sagen können: Seht ihr, es geht auch ohne! Schluss mit dem Unfug! …und wir bekommen unsere Freiheiten wieder zurück.

 

 

 

 

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