Was auffällt: ziemlich in ganz Europa sind die Infektionszahlen auf über 50 Infizierte pro 100 000 Einwohner gestiegen.
- Anmerkung eins: ich bitte, sich immer wieder klar zu machen, was diese Zahl bedeutet. Das sind 0,5 Promille! Wo sonst bekommen 0,5 Promille diese Aufmerksamkeit? Naja, außer wenn man pusten muss.
- Anmerkung zwei: Schweden – das sind die mit den laxen Maßnahmen – liegt wie Deutschland unter den 0,5 Promille. Aktuell. Kann sich ändern. In Deutschland und in Schweden.
Der rasante Anstieg der Infektionszahlen hat offensichtlich herzlich wenig zu tun mit den im Frühjahr und Sommer getroffenen und den aktuellen Maßnahmen: Länder mit reichlich brutalem Lockdown (Frankreich, Belgien, Spanien, Portugal) trifft es keineswegs weniger als die liberaleren (Niederlande, Schweiz, aber auch vergleichsweise Deutschland).
Im letzten Artikel habe ich ausführlich Professor Vernazza aus der Schweiz zitiert, der einen Strategiewechsel anmahnt. Ich war zunächst durch die Formulierung der Überschrift „Überschätzten wir uns selbst?“ irritiert, bis ich begriff, was er meinte: Manche „Kriege“ sind nicht durch komplette Vernichtung oder Vertreibung des Gegners zu gewinnen. Es war eine Illusion, eben eine Selbstüberschätzung, man könne den Invasor „Corona“ aus dem Land jagen. Vielleicht ist es so ähnlich, wie man bei vielen Krankheiten Abschied nehmen muss von der Illusion einer vollständigen Heilung. Vielmehr kann das Ziel bei Diabetes, COPD, Colitis ulcerosa usw. usw. nur sein, ein möglichst gutes Leben mit der Krankheit zu haben.
Mag sein, dass irgendwann einmal im einen wie im andern Fall komplette Heilung möglich ist. Aber bis das so weit ist, verschwenden wir unsere Kraft durch nutzlose Versuche, das Virus „auszurotten“ und die Ansteckungszahlen auf Null zu drücken. Kraft, die wir anderweitig besser nutzen können, nutzen müssen. Jetzt weiter nach dem Motto „viel hilft viel“ und wenn das nicht geholfen hat, erhöhen wir eben die Dosis – das ist offensichtlich Schwachsinn. Das Ergebnis kennen wir beispielsweise von Schmerzmitteln: Wenn Ibuprofen 600 nicht reicht, nehmen wir eben noch eine und dann noch eine… wenn notwendig bis zum Magendurchbruch. Nun, den „Magendurchbruch“ im übertragenen Sinn scheint man vermeiden zu wollen.
Hoffentlich hält diese Front!
Der Medienwissenschaftler Stephan Russ-Mohl schreibt in einer Gastkolumne in der Süddeutschen vom Samstag (Herdentrieb): „Als Medienforscher beobachte ich mit großer Sorge den Overkill, mit dem Leitmedien, insbesondere das öffentlich-rechtliche Fernsehen, aber auch Zeitungen wie SZ oder FAZ über die Pandemie berichten… Vielmehr haben die Medien mit ihrem grotesken Übersoll an Berichterstattung Handlungsdruck in Richtung Lockdown erzeugt, dem sich die Regierungen in Demokratien kaum entziehen konnten. Im März und April schnellte der Anteil der Corona-News in den Hauptnachrichtensendungen von ARD und ZDF… hoch und bewegte sich zwischen 60 und 75%… Zum Vergleich: Der Anteil der Beiträge zur Klimadebatte habe ‚in Spitzenzeiten kaum mehr als zehn Prozent der Gesamtberichtung‘ erreicht….“ Er erklärt dann den Kreislauf: Wenn die Medien einseitig fokussieren, rufen sie bei den Konsumenten Interesse und Angst hervor. „Angst generiert steigende Nachfrage nach Corona-News“ Diese zu bedienen, dient der Auflagenhöhe bzw. Einschaltquote… „bis hin zum Tunnelblick. Alles, was nicht mit Corona zu tun hat, wird über Monate hinweg nachrangig.“ Konsequenz der Schweizer Ökonomin Margit Osterloh: Im Zusammenhang mit Covid-19 breite sich ein „Autoritätsvirus“ aus eine „bereitwillige Selbstentmündigung des Souveräns“. Weswegen Söder mehr punkte als Laschet zum Beispiel.
Es passt mir ganz und gar nicht was das Wall Street Journal schreibt (zitiert nach der internationalen Presseschau des Deutschlandfunks am 17.10.20):
„Einer der größten Irrtümer des Jahres 2020 ist die Annahme, dass alle Staaten außer den USA einen Ansatz zur Eindämmung von Covid-19 haben. Diese Fehleinschätzung liegt der Kritik der Demokraten und der Medien an Präsident Trump und einigen Gouverneuren zugrunde, die keinen kompromisslosen Lockdown wie die Spanier verhängen oder so emsig alle Kontakte verfolgen wie die Deutschen. Gebracht hat es allerdings wenig. Die meisten Länder, die stets als große Vorbilder für Washington genannt wurden, sind nämlich inzwischen voll im Griff der zweiten Corona-Welle. Und ihre Pandemie-Politik ist keineswegs weniger chaotisch…“
Also, wie gesagt: Dieser Kommentar passt mir ganz und gar nicht. Er ist auch nicht nur richtig. Aber er ist eben auch nicht total falsch.
Wie kommt man bloß zu intelligenten Lösungen, bei denen man sich nicht für ein (derzeit) unerreichbares Ziel aufreibt und nicht in albernen Aktionismus verfällt nach dem Motto „Hauptsache wir tun was“…. So wie Jyllandsposten (zitiert aus derselben Presseschau des Deutschlandfunks) ironisch anmerkt: „Glaubt jemand ernsthaft, dass die Infektionszahlen in die Höhe schnellen, wenn gesittete Restaurantbesucher wie früher erst nach 22 Uhr nach Hause gehen?“
Es ist mal wieder einfacher zu sagen, was keine gute Lösung ist als gute Lösungen zu präsentieren.