Papier mit Aluhut. Versagt die vierte Gewalt?

Mit „Papier“ ist in diesem Fall der ehemalige Vorsitzende des Bundesverfassungsgericht Hans-Jürgen Papier gemeint, der heute aus juristischer Sicht Kritik an den Corona-Verordnungen übte https://www.tagesschau.de/inland/bund-laender-gespraeche-ende-der-geduld-101.html:

Die Überschrift passt nicht so ganz zum Inhalt, denn eigentlich geht es Papier eher um eine Warnung vor zu viel Vertrauen:

Kritik an Corona-Verordnungen. Eine Frage des Vertrauens

„‘Eine gefährliche Entwicklung, die das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit der parlamentarischen Demokratie in Krisenzeiten erschüttern kann“, sagt der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier.

Sofern eine Regelung also wesentliche Grundrechte beschränkt, könnte eine Verordnung als Rechtsgrundlage nicht ausreichen. Das beträfe streng genommen alle 16 Verordnungen der Bundesländer zur Eindämmung der Corona-Pandemie, die seit Mitte März den Alltag der Bürger mitprägen. Was am Anfang wegen der besonderen Notlage noch angemessen war, werde – je länger die Maßnahmen andauern – immer problematischer, so Papier.“

Papier lässt sich damit locker einordnen in die Reihe der Verschwörungstheoretiker, Rechtsradikalen, Impfgegner, die nichts Wichtigeres zu tun haben, als angeblich für die Einhaltung der Grundrechte zu demonstrieren, tatsächlich aber ihr nichtswürdiges Süpplein kochen wollen und die Unzufriedenheit „normaler Bürger“ (so der Spiegel – ich komme gleich noch drauf) wie der Rattenfänger von Hameln ausnützen. Wo es doch darum geht, Leben zu retten. Und wo es einfach lächerlich ist, die Frage nach der Legitimität der Einschränkung von Grundrechten zu stellen. „Blödsinn! Ich fühle mich in meinen Grundrechten nicht eingeschränkt…. Haha, Sie Komfort-Mimose, stellen Sie sich nicht so an! In Zeiten wie diesen hat das Gemeinwohl Vorrang“, das ist der Tenor der Mehrheit der Diskussionsbeiträgen zu obigem Tagesschau-Bericht.

Nun zu dem aktuellen Spiegel-Artikel. Natürlich wieder mal kostenpflichtig. https://www.spiegel.de/politik/deutschland/innenminister-warnen-vor-corona-verschwoerungstheorien-wut-und-wahnsinn-a-7496fc5b-ae17-488a-8ef3-d3d9e1190dee

Deutschlands neue Wutbürger. Die Corona-Pegida

So titelte der Spiegel. Kurzfristig. „Corona-Pegida“ wurde bald gestrichen. Aber die „Verbesserung“ war auch nicht so überzeugend: „Innenminister warnen vor Corona- Verschwörungstheorien: Wut und Wahnsinn.“ Aktuell lese ich: „Deutschlands neue Wutbürger – Sturm der Lügen“.  

„Bei Demonstrationen und im Netz hetzen extreme Rechte wie Linke gegen die Pandemiemaßnahmen. Die Thesen der Verschwörungsideologen erreichen auch Menschen, die eigentlich fest auf dem Boden des Grundgesetzes stehen… In der Tat finden sich deutschlandweit immer mehr Bürger zu Protesten gegen die Regierenden zusammen. Dabei gehen nicht nur die üblichen Pegida-Verdächtigen auf die Straße. Das Virus vereint Menschen im Protest, die bislang wenig gemeinsam und kaum etwas miteinander zu tun hatten. Rechtsextremisten, Impfgegner, Antisemiten, Verschwörungsideologen, Linksradikale, Alt-Autonome und Esoteriker. Und ganz normale Bürger, denen politisches Engagement bislang eher fremd war.“

Nun ist nicht zu leugnen, dass Corona-Beschränkungen nicht minder ausgenützt werden können wie die Angst vor Überfremdung, die Angst vor Verlust des Arbeitsplatzes oder was weiß ich. Es lässt ich alles missbrauchen. Ich teile auch die Ansicht, dass man sich genau anschauen muss, mit wem man demonstriert.

Aber die Zusammenstellung des SPIEGEL ist schon kurios: „Rechtsextremisten, Impfgegner Antisemiten… Esoteriker“ und – Achtung! „ganz normale Bürger, denen politisches Engagement bislang eher fremd war“. Normale Bürger, die politisch engagiert waren und sind, tauchen in dieser Kollektion nicht auf. Ich schließe daraus: Die demonstrieren „bei sowas“ nicht. 

Das ist das eine. Das andere: Die Demonstration möchte ich sehen, bei der nicht auch Leute mitlaufen oder ihr Statement abgeben, die aus meiner Sicht Spinner sind. Wobei: Bei einer Demo ist es deutlich schwieriger Schafe und Böcke auseinanderzuhalten. Aber wie ist das denn in den Parteien? Ist Gauweiler nicht mehr CSU-Mitglied? Und Sarrazin ist wohl immer noch nicht aus der SPD ausgeschlossen… In jedem Verein – einschließlich der katholischen Kirche, wie man an den Verschwörungstheoretiker-Kardinälen sieht https://www.tagesschau.de/inland/verschwoerung-corona-101.html – gibt es Mitglieder die man lieber heute als morgen draußen sähe. Wenn ich da dieselbe Latte anlegen würde!!!

Aber bei den Demonstrationen gegen die Einschränkungen der Grundrechte durch die Corona-Bestimmungen, da wird alles auf die Goldwaage gelegt.  

 „An vielen Orten mündete die Lust am Widerstand in Aggressionen gegen Polizisten und Journalisten. In Berlin wurden Kamerateams von ARD und ZDF angegriffen“ schreibt der Spiegel. Nicht dass ich das gut finde – muss ich das betonen?. Aber wie kommt der Autor darauf von „LUST“ am Widerstand zu sprechen?  Es suggeriert: Die Leute haben Lust auf Widerstand, gehen deswegen zur lustigen Demo und greifen lustvoll Polizisten an. Deine Sprache verrät dich!  Wie ist man sonst drauf bedacht gewesen (gewesen!), bei Demos zu unterscheiden, zwischen Menschen, denen es um die Sache ging und solchen, die Randale machen wollten.

Und – ach diese Argumentationsreihe  kenne ich nur zu gut aus den 68-ern und noch besser aus der Friedensbewegung: „Die seltsame Melange auf den Marktplätzen wird von Verschwörungsideologen und prorussischen Medien befeuert, die Fake News verbreiten und so versuchen, die Demokratie zu destabilisieren.“ Und weiter unten: „Das frühe Interesse der Kreml-Propagandisten ist wenig überraschend.“ Rechts oder links, das ist ja ohnehin Jacke wie Hose. Bloß blöd, dass man heute nicht mehr sagen kann „haut doch ab nach drüben!“

Und leider, leider, die Dummis, die ja eigentlich auf dem Boden des Grundgesetzes stehen, lassen sich „für die Verbreitung von Verschwörungstheorien instrumentalisieren“. So Innensenator Andreas Geisel (SPD).  

 

Es ist nicht nur die TAZ, der Spiegel – auch die Süddeutsche (vom 9./10 Mai https://www.sueddeutsche.de/leben/corona-sex-videochats-masturbation-1.4898131?reduced=true) macht munter mit. In dem Artikel „Geile Zeit“ mit dem an und für sich sympathischen Spruch „Vögeln statt Hamstern“ findet sich der Satz: „Während also ein paar aufgeregte auf ‚Hygiene-Demos‘ wegen der staatlich verordneten Beschränkungen vor dem vermeintlichen Einzug des Faschismus warnen, scheinen viele Menschen gerade das gegenteilige Gefühl zu haben: Unser Gesundheitssystem und die Politik erweisen sich in der Krise als vertrauenswürdig und stabil.

Was ist die Sinnspitze solcher Artikel? Das taugt nicht dazu, den „normalen Bürger“ vor Fehlentwicklungen oder der Gefahr von Vereinnahmungen zu warnen, ihn sachlich zu informieren. Hier wird suggeriert: Wenn du gegen Corona-Maßnahmen demonstrierst, dann bist du in einem Topf mit wirren Rechten und Verschwörungstheoretikern und unmoralisch dazu, weil dir Menschenleben gleichgültig sind – also demonstriere lieber nicht.

Sicher befürworten TAZ, Spiegel und Süddeutsche, die inzwischen allerdings gerichtlich gekippte Demo-Auflage des Kölner Ordnungsamtes, alle TeilnehmerInnen müssten Name und Adresse angeben. (https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/vg-koeln-7l809-20-teilnahme-demo-pflicht-namensliste-teilnehmer-unverhaeltnismaessig/ ). Dabei wäre es selbstverständlich einzig und allein darum gegangen, im Falle eines Coronafalls alle TeilnehmerInnen an der Demonstration schnell ausfindig zu machen und vor gesundheitlichen Schäden zu schützen… Wer wollte da was dagegen haben!   

Einer der sich derzeit in deutlicher Minderheit befindlichen Mitdiskutanten des Tagesschau-Berichts über den Ex-Verfassungsgerichtspräsidenten Papier stellt ironisch fest:

 „Es leuchtet unmittelbar ein: Verschwörungstheoretiker und Rechtsradikale / Rechtsextreme gehen auf die Straße und demonstrieren für Grundrechte, während die ÖR-Medien die Demonstranten für Grundrechte als Verschwörungstheoretiker und Rechtsradikale / Rechtsextreme stigmatisiert. Die Corona-Zeit ist schon eine kuriose Zeit!“

Hoffentlich kommt bei uns kein Orban und hoffentlich keine Justizreform wie in Polen. Auf die Gegenwehr der vierten Gewalt in solch einem Fall vertraue ich im Moment wenig.

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