Corona-Splitter am 21. März 2022 – ein Tag nach Inkrafttreten des neuen Infektionsschutzgesetzes

Da bin ich aber mal gespannt: Knapp 70 % wollen weiter die Maske tragen!

Nachdem sich in Umfragen schon über 60 % gegen die Aufhebung der staatlich verordneten Maskenpflicht ausgesprochen haben, wollen – einer weiteren Umfrage zufolge – über 70% die Maske weiter tragen. Das wäre immerhin im Sinne einer vermehrten Übernahme von Eigenverantwortung versus „Warten auf obrigkeitliche Verordnungen“ eine begrüßenswerte Entwicklung.

Ich werde mal in einer Woche durch Oberkirchs Straßen und in Oberkirchs Läden gehen und nachschauen, was aus den 70% geworden ist. Da habe ich so meine eigenen Fantasien.

Wenn keine 70% MaskenträgerInnen mehr zustande kommen, dann schließe ich nicht auf einen plötzlichen Umschwung der parteipolitischen Präferenz (aktuell wollen die Grünen- und SPD-WählerInnen mit 80% weiter die Maske tragen, AfD- und FDP-WählerInnen neigen deutlich unterdurchschnittlich dazu).

Besinnen wir uns so allmählich doch wieder auf unsere Eigenverantwortung?

Man liest und hört, die Regierung schiebe die Verantwortung ab. Kann man so sehen. Man kann es aber auch so sehen: Endlich bekommen die – mündigen! – BürgerInnen ihre Eigenverantwortung zurück.

Ich wäre nicht ich, wenn nicht an dieser Stelle wieder mal ein Kant-Zitat fällig wäre:Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich ein Gewissen hat, einen Arzt, der für mich Diät beurteilt, und so weiter, so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen.

Eigenverantwortung macht Arbeit, sie ist alles andere als ein Freibrief à la „ich mach’s mir mal bequem“. Eigenverantwortung hat überdies den Nachteil, dass ich für die Folgen meines Tuns niemanden verantwortlich machen kann außer mich selbst. Und – das ist im Falle der Coronamaßnahmen besonders wichtig: Auf das durchaus befriedigende Gefühl muss verzichtet werden, auf der Seite der moralisch Guten zu stehen, weil ich folgsam die von oben erlassenen Regeln befolge.

Es mag berechtigt gewesen sein, am Anfang der Pandemie dem Staat ein Stück unserer eigenen Verantwortung zu übertragen. Schon deshalb, weil staatliche Institutionen viel mehr Möglichkeiten haben, Wissen von Fachleuten zu sammeln und zu bündeln. Die Möglichkeiten hatten sie. Ob sie auch hinlänglich Gebrauch davon machten und sie rationaler nutzten, als die BürgerInnen es getan hätten – da bin ich mir manchmal nicht so sicher. Erst recht bin ich mir nicht sicher, ob das der erfolgreichere Weg war. Schweden ist von Anfang an einen anderen Weg gegangen, hat den Bürgerinnen und Bürgern mehr vertraut und ist damit nicht schlecht gefahren. Heute, am 21. März beträgt die Inzidenz in Schweden 89,7  Bei uns 1714,2.

China – wohl kein Modell mehr!

Okay, okay: in China liegt heute die Inzidenz bei 1,0 – wenn‘s stimmt – aber ob das noch ein durchschlagendes Argument ist? Nachdem hierzulande Sympathie für die chinesische Zero-Covid-Strategie spürbar war, hat sich der Wind gedreht – nicht nur wegen der Zustände in Hongkong, sondern weil deutlich wird, was die Strategie kostet. Im Moment scheint nur der wirtschaftliche Preis zu zählen und nicht der soziale und psychische.

Unter der Überschrift „Chinas Zero-Covid-Politik vor dem Scheitern“  heißt es am 18.03.2022 im SPIEGEL:

„In der besonders stark betroffenen Region Jilin an der nordkoreanischen Grenze sprechen Behördenvertreter laut Informationen der Nachrichtenagentur Reuters sogar von einer »Schlacht um Leben und Tod«. Die 24 Millionen Einwohner der Provinz dürfen ihre Häuser nicht mehr verlassen.[…] Mit immer neuen Lockdowns versuchen die chinesischen Behörden, das Virus einzudämmen – das legt nicht nur das Leben der betroffenen Menschen lahm, sondern sorgt auch für gravierende wirtschaftliche Verwerfungen. »Die Entwicklung in China ist sehr besorgniserregend«, sagt Wan-Hsin Liu, Forscherin am Kiel Institut für Weltwirtschaft (IfW). So habe sich die Zahl der täglichen Neuinfektionen zwischen Mitte Februar und Mitte März verfünfundzwanzigfacht. […] Die China-Expertin warnt: »Wenn die Eindämmungsmaßnahmen länger andauern und immer größere Bereiche betreffen, hätte das nicht nur gravierende Folgen für die chinesische Wirtschaft, sondern auch für die globale Konjunktur«. Das würde auch deutsche Unternehmen und Verbraucher treffen.“

(Ähnlich in der Tagesschau vom 17.03.2022: „Chinas Wirtschaftsziele gefährdet – Der Preis der Null-Covid-Strategie“ )

Nun hatte gerade der Spiegel mehr als einmal das Scheitern der schwedischen Coronapolitik prognostiziert, das muss man also mit Vorsicht genießen. Aber nach mehr als vor eineinhalb Jahren stellt sich die Frage: wollen wir eher chinesische oder schwedische Verhältnisse.

Eigenverantwortung oder staatliche Vorschriften – hier verschiebt sich gerade was

Noch wogt es hin und her, aber ich lese deutlich mehr Kommentare, die sich darauf besinnen, wie wichtig Eigenverantwortung für eine Demokratie ist.

100% Impfquote gibt es nur in Diktaturen“ stellt ein Krankenhaus-Chef im Tagesgespräch des SWR 2 am 15.03.2022 fest

Angelika Slavik verweist am selben Tag in der Süddeutschen darauf, dass die Aufhebung der Massenpflicht keineswegs ein Maskenverbot ist. Allerdings: Diesen Eindruck könnte man haben, wenn man manche aufgeregten Reaktionen liest. Sie schreibt weiter:

Grundrechte einzuschränken, ist aus gutem Grund ein Tabubruch, es muss die absolute Ausnahme sein. Vor allem am Anfang dieser Pandemie war diese Ausnahme vollkommen gerechtfertigt: Als die Wissenschaft wenig über das Virus wusste, als es keine Impfungen gab, als zwischenzeitlich sogar die Masken knapp waren und als vor allem ältere Menschen in den Pflegeheimen schutzlos waren, da waren rigide Gegenmaßnahmen angemessen.[…] Aber wir werden mit dieser Pandemie noch eine ganze Zeit lang leben müssen, und dieses Leben kann nicht nur aus staatlich angeordneten Verboten bestehen. Deshalb gehört zu einem eigenverantwortlichen Leben nun eben auch die Entscheidung, welche Vorsichtsmaßnahmen jeder treffen will und welche nicht. Das kann nicht dauerhaft die Aufgabe eines Staates sein, der an verantwortungsfähige Bürgerinnen und Bürger glaubt.“

Noch grundsätzlicher heißt es in dem Kommentar auf tagesschau.de vom 18.03.2022: „Coronaregeln: der Staat kann nicht alle Risiken absichern“ von Hans-Joachim Vieweger.

„Doch warum ist in der Debatte eigentlich von „Lockern“ die Rede? Vielmehr nimmt die Politik Maßnahmen zurück, die begründungspflichtig sind. Einschränkungen der persönlichen Freiheit sind – und daran muss nach zwei Jahren Pandemie offenbar erinnert werden – nicht das Normale; vielmehr können Einschränkungen in einem freiheitlichen Staat nur die Ausnahme sein. Doch leider hat sich aufgrund der Pandemie ein höchst problematisches Denken in die gesellschaftliche Debatte eingeschlichen: Als ob jetzt die Freiheit begründungspflichtig wäre […] Zugleich wird mit dem Verständnis, als könne oder solle der Staat Risiken weitgehend vermeiden, eine Erwartungshaltung geweckt, die nicht erfüllt werden kann – und die letztlich zu Staats- und Demokratieverdrossenheit beiträgt. Nach zwei Jahren Corona ist daher endlich wieder eine Debatte notwendig, was der Staat leisten kann und was nicht. Denn der Ruf nach dem Staat lenkt davon ab, dass wir als Einzelne Verantwortung übernehmen müssen. Wir können nämlich nicht jedes Problem an die Politik abschieben.“

Entscheidung fürs Nicht-Impfen. IGES (Institut für Gesundheit und Sozialforschung) bringt einen neuen Gedanken ins Spiel

Hier heißt es am 18.03.2022

Im März 2022 werden täglich ca. 220 Covid19-Sterbefälle gemeldet. Dies ist eine relativ hohe Zahl, aber keine Begründung für zusätzliche staatliche Maßnahmen, insbesondere keine allgemeine Impfpflicht…

Das Altersspektrum der Sterbefälle zeigt, dass aktuell 72 Prozent der Fälle auf über 80-Jährige entfallen (siehe Abbildung). Ein so hoher Wert wurde zuletzt Ende 2020 erreicht, als auch die Sterbefälle ein maximales Ausmaß angenommen hatten. Im Vergleich dazu entfielen im Jahr 2021 in Bezug auf alle Sterbefälle lediglich 59 Prozent der Sterbefälle auf über 80-Jährige. Das Sterbegeschehen bei Covid19 ist also derzeit ganz besonders durch Sterbefälle von Alten gekennzeichnet. […] 60 Prozent der Todesfälle von über 60-jährigen entfallen auf ungeimpfte Personen, obwohl deren Anteil an dieser Altersgruppe bei lediglich 11,2 Prozent liegt. Dies zeigt eine Sonderauswertung des RKI über 341 Todesfälle in den Kalenderwochen 4 bis 7. Rechnet man die Sterbefälle auf jeweils 100.000 Personen um, ergibt sich eine Übersterblichkeit („odds ratio“) der Ungeimpften zwischen dem 17- und dem 27-fachen der dreimal oder zweimal Geimpften. Das Risiko bei über 80-Jährigen wird vom RKI leider nicht ausgewiesen, dürfte aber ähnlich hoch sein.

Vor dem Hintergrund einer mehr als einjährigen Aufklärungstätigkeit über die Schutzwirkung von Impfungen insbesondere bei Alten muss allgemein als bekannt vorausgesetzt werden, dass Ungeimpfte ein sehr viel höheres Risiko tragen als Geimpfte. Die hohe Übersterblichkeit von Ungeimpften markiert diesen Sachverhalt. Aus der Sicht von geschäftsfähigen über 80-Jährigen Personen ist daher davon auszugehen, dass Ungeimpfte ihr Risiko kennen, schwer zu erkranken oder ggf. zu versterben. Wenn sich jemand gegen die Impfung entscheidet, kann in der Regel davon ausgegangen werden, dass dies in Kenntnis des viel höheren Risikos geschah, ungeimpft an einer Covid19-Infektion zu versterben.

Das heißt nicht mehr und nicht weniger: Gibt es vielleicht viele alte Menschen, die die Entscheidung, sich nicht impfen zu lassen sehr bewusst fällen, die vielleicht gar nicht so sehr am Leben hängen, wie ihnen von denen unterstellt wird, die ständig das Argument, es ginge um den Schutz der vulnerablen Alten im Munde führen.

Die Entscheidung für ein Risiko, tödlich zu erkranken, gehört auch zum Selbstbestimmungsrecht. Dies zu ignorieren und den Schutz „der Alten“, die womöglich gar nicht geschützt werden wollen, als Argument (man könnte auch sagen: Vorwand) für eine allgemeine Impfpflicht zu verwenden, wäre eine besondere Art der Bevormundung.

Wie geht‘s weiter?

In einem Tagesgespräch des SWR2 mit dem Soziologen Professor Baecker von der Universität Witten-Herdecke am 18. März (kann man aus unerfindlichen Gründen nicht Nachhören) wurde dieser von einem hörbar beunruhigten Moderator gefragt, ob die Aufhebung zum Beispiel der Maskenpflicht nicht zu einer weiteren Spaltung der Gesellschaft führen könnte. Dahinter stand wohl die Fantasie der Selbstjustiz: Unmaskierte rissen den Maskierten die Maske vom Gesicht… umgekehrt würde es etwas schwieriger. Der Professor daraufhin überraschend: „Es könnte uns nichts Besseres passieren“. Er begründete das so: die Chance bestehe, dass Maskenbefürworter und Maskengegner auf diese Weise viel besser ins Gespräch miteinander kämen, sich die Fronten so eher auflockern ließen, als dass sie verhärten würden. Genau das Gespräch sei wichtig für eine funktionierende Demokratie.

Bundespräsident Steinmeier hat das vor ein paar Tagen im thüringischen Altdorf schon vorweggenommen: unter seiner Ägide fand ein Kontrovers-Kaffee mit Menschen konträrer Anschauungen statt. Der Bürgermeister, André Neumann, berichtet, wie sich diese Menschen gegenüber saßen und argumentierten. Das Niveau sei „deutlich oberhalb der Gürtellinie“ gewesen. Das ist weniger verwunderlich als es scheint: wer sich einander gegenübersitzt, sieht, dass der andere überraschenderweise durchaus menschliche Züge hat. (Interview im Deutschlandfunk. Der Satz findet sich im letzten Drittel . Vgl. auch der Bericht vom 20.03.2022 des MDR.)

Ein Anfang. Aber es muss noch viel folgen!

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